Öcalan: "Bedenken der Türkei sollen berücksichtigt werden"

Kurdischer "Repräsentant" Abdullah Öcalan. Foto: ANF

In Syrien schaukeln sich militärische Auseinandersetzungen hoch; spekuliert wird über "schmutzige Deals" im Hintergrund

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Wie lange wird der al-Qaida-Ableger Hay'at al-Tahrir asch-Scham (HTS) sein Herrschaftsgebiet im syrischen Gouvernement Idlib halten können? Die Frage, wann die syrische Armee und ihre Verbündeten dort angreifen, um die Herrschaft der Dschihadisten zu beenden, ist seit längerem schon Gegenstand von immer neuen Spekulationen. Aktuell zeigen Luftangriffe der letzten Tage auf Ziele in Idlib und dem benachbarten Gouvernement Hamas an, dass militärische Aktionen in dem Gebiet intensiviert werden.

"Lang erwartete Offensive in Idlib" ...

Das Internet-News-Portal Al-Masdar-News, das einen guten Draht zur Regierung in Damaskus haben soll, meldet heute, dass die syrische Armee ihre "lang erwartete Offensive in Idlib" begonnen habe. Angeführt von den Einheiten der Tiger Forces soll die syrisch-arabische Armee (SAA) mehrere Stellungen in der Nähe von Abu Dhuhur im Südosten Idlibs erobert haben, die unter der Kontrolle der Dschihadistenmilizen Jaish al-Izza und HTS standen. Al-Masdar meldet darüber hinaus auch Kämpfe der syrischen Armee gegen Dschihadisten bei Qal'at al-Madiq, das im Südwesten von Idlib liegt.

... oder nur Vergeltungsschläge?

In der Darstellung der syrischen Nachrichtenagentur Sana ist am heutigen Montag von keiner Offensive die Rede, sondern von Vergeltungsangriffen gegen Terroristen in Idlib und Hama, die ihrerseits zuvor Ziele in der von der Regierung kontrollierten "sicheren Zonen" angegriffen hätten.

Tags zuvor hatte Sana gemeldet, dass die "terroristischen Organisationen" in Idlib und Umgebung Angriffe auf "sichere Zonen und Armeepositionen" in Hama und Lattakia vorbereiten würden und im Begriff stünden, "ihre feindlichen Akte zu eskalieren". Dass sich die Dschihadisten militärisch verstärkt haben, wird auch von anderen, nicht regierungsnahen Quellen berichtet.

Die Darstellung aus Sicht der syrischen Militärs wird in einem zentralen Punkt von einem Bericht des kurdischen Portals ANF geteilt. Auch dort werden Luft- und Raketenangriffe, die als "schwerste Angriffe seit 15 Monaten bezeichnet werden" nicht als eine Offensive, sondern als Vergeltungsreaktionen geschildert - mit einem interessanten Zusatz:

Al-Nusra bzw. das Dschihadistenbündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat am 2. Mai einen russischen Luftwaffenstützpunkt in Latakia mit Grad-Raketen und bombenbestückten Drohnen angegriffen. Auf diesen Angriff erfolgten Luft- und Raketenangriffe auf weite Gebiete von Idlib. Hauptangriffsziel waren die von al-Nusra gehaltenen Gebiete, aber es wurden auch Regionen bombardiert, in denen sich die direkt mit der Türkei verbundene Dschihadistenkoalition "Nationale Befreiungsfront" aufhält.

ANF

Mit dem Hinweis auf die mit der Türkei verbundenen islamistischen syrischen Milizen wird das größere Tableau der Interessen aufgezogen, die hinter den Angriffen, Bombardierungen (mit den bekannten Vorwürfen, dass Krankenhäuser getroffen wurden, die von der anderen Seite als Militärstellungen identifiziert werden), und größeren Fluchtbewegungen der vergangenen Tage in Syrien stehen.

Auch kam es in Idlib laut Hurriyet zu Angriffen von syrischer Seite auf die von der Türkei besetzten Beobachtungsposten.

Die Türkei selbst flog in den letzten Tagen ebenfalls Luftangriffe auf Ziele in Syrien. Es gab eine kurze türkische Offensive auf Tal Rifat (oder auch: Tel Rifaat) in Syrien, die gegen die SDF gerichtet war, und nach beträchtlichen Verlusten auf beiden Seiten wieder eingestellt wurde.

"Schmutziger Deal" zwischen Russland und der Türkei?

Die türkische Offensive war Anlass zur Spekulation, dass es einen "schmutzigen Deal" zwischen der Türkei und Russland gebe. Eine Abmachung zwischen Putin und Erdogan soll der Türkei gestattet haben, dass sie auf syrischen Gebiet ihre Interessen gegen die Kurden in der PYD/YPG/SDF durchsetzen, als Gegenleistung würde sich die Türkei nicht gegen eine Eroberung Idlibs stemmen, sondern ebenfalls Freiraum gewähren.

Die Spekulationen haben zwar einige Plausibilität für sich, allerdings gibt es keine Beweise dafür, schon gar keine offiziellen Aussagen und: Die Wirklichkeit fügt sich solchen Schemata, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der nahtlosen Art, wie es die Gerüchte vorhersagen.

Die Offensive der Türkei hat nicht funktioniert. Darüber hinaus gibt es Anzeichen, die gegen einen harmonischen Konsens zwischen Russland und der Türkei sprechen, zum Beispiel, dass Militärs beider Länder keine gemeinsamen Patrouillen mehr in Schutzzonen durchführen.

Die türkische Regierung ist wahrscheinlich auch nicht begeistert davon, dass ihre Stellungen in Idlib von syrischer Seite angegriffen wurden. Laut offiziellen Abmachungen, die auch von der syrischen Regierung abgesegnet wurden, sollten die türkischen Truppen das Gebiet überwachen. Die Angriffe verweisen auf einen Haken im "schmutzigen Deal" zwischen Russland und der Türkei: Auch die syrische Regierung müsste damit einverstanden sein.

Bislang hat sie offiziell kein Signal dafür gegeben, dass sie mit einer Ausweitung der türkischen Präsenz auf ihrem Territorium einverstanden wäre.

"Schmutziger Deal" zwischen USA und der Türkei?

Hochinteressant ist das Signal, das heute von Öcalan übermittelt wird. Nach Angaben seiner Anwälte, wie sie im Netz weitergegeben werden, soll der unter den Kurden der selbstverwalteten Gebiete in Nordsyrien nach wie vor sehr einflussreiche Mann in einem Papier mit anderen Gefangenen dafür plädieren, dass die Kurden der Türkei mehr entgegenkommen. ANF zitiert aus dem Wortlaut der Erklärung:

Wir glauben, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) für die Problemlösung in Syrien auf die Konfliktkultur verzichten und einen Status erreichen sollten, der den Prinzipien der lokalen Demokratie entspricht und ihre Rechte auf der Grundlage eines vereinten Syriens verfassungsrechtlich garantiert. In diesem Sinne sollten auch Bedenken der Türkei berücksichtigt werden.

Erklärung der Öcalan-Anwälte

Die Aussage dürfte auf jeden Fall Eindruck machen. Wie sie aber umgesetzt wird?

Ihren Hintergrund bilden die Verhandlungen zwischen US-Vertretern und der türkischen Regierung in Ankara über die Einrichtung einer "Schutzzone" auf syrischem Gebiet, die zuletzt zu Annäherungen geführt haben sollen. Im Klartext handelt es sich um einen, angeblich 30 Kilometer breiten, YPG-freien Streifen, den sich die Türkei jenseits ihrer Grenze wünscht. US-Vertreter haben, wie bereits berichtet, entsprechende Forderungen an Vertreter der Kurden gestellt.

Aus mehreren Gründen, nicht zuletzt mit Blick auf das türkisch-russische Verhältnis, ist den USA daran gelegen, der Forderung der Regierung in Ankara nach einer türkisch kontrollierten Zone in Nordsyrien entgegenzukommen. Allerdings sind die Kurden Verbündete der USA in Syrien, die als "Bodentruppe" der US-Airforce große Verluste hinnehmen mussten.

Sie sind aus Überlebensgründen gegen eine Vereinbarung, die türkische Militärs und brutale, ihnen feindlich gesinnte islamistische syrische Milizen auf ihr Gebiet lassen. Das Beispiel Afrin vor Augen, wo die Türkei die Verwaltung übernommen hat, eine Umsiedlungspolitik betreibt und den islamistischen Milizen große Freiheit zum Plündern, Rauben, Vergewaltigen, Entführen und Töten gewährt, befürchten die Kurden der nordsyrischen demokratischen Föderation das Allerschlimmste.

Die US-Vertreter sollen laut gutinformierten Quellen im Angebot gehabt haben, dass man die Kurden über Öcalan, der sich seit vielen Jahren in türkischer Gefangenschaft befindet, von einem Entgegenkommen überzeugen könnte, das in ihren Augen auch einem "schmutzigen Deal" gleichkommen müsste. Als Alternative steht wie schon beim türkischen Angriff auf Afrin eine Einigung mit der syrischen Regierung zu Debatte.

Allerdings gibt es da große, bislang nicht überbrückte Gegensätze in den Positionen, z.B. in der Frage der autonomen Verwaltung und im Fortbestehen der SDF, womit die Regierung in Damaskus nicht einverstanden ist.

Auch die US-Regierung ist gegen eine Annäherung zwischen Kurden und der Regierung Assad. Die SDF kooperiert, wie Rudaw berichtet, mit Damaskus über Öllieferungen, da sie wichtige Felder kontrollieren. Die Versorgungssituation in Syrien ist durch die Sanktionspolitik der USA katastrophal.

Über die besetzten Ölquellen im Südosten des Landes haben bislang die USA einen Hebel in der Hand. Die Frage, die der genannte Rudaw-Bericht in Spiel bringt, ist, ob sich die SDF, die die Ölquellen de facto besetzen, diesen Hebel nicht für Verhandlungen mit der Regierung in Damaskus mehr zu eigen machen kann. Es heißt darin aber auch, dass arabische Stämme nun häufiger gegen die kurdische Kontrolle der Ölfelder aussprechen. Die Interessensgeflechte in Syrien werden nicht einfacher.