Offener Brief an die ortsansässige Agrargenossenschaft

Seite 2: "Das Wohl unserer Tiere"

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Auch in Bezug auf Ihre Milchproduktion habe ich ein paar Anmerkungen. Sie halten laut Selbstdarstellung. 350 Kühe auf Ihrem Hof und geben an, sich um eine artgerechte Haltung zu bemühen. Da heißt es unter der Überschrift "Tierproduktion": "Im Mittelpunkt unserer täglichen Arbeit steht das Wohl unserer Tiere. Deshalb nutzen wir einen neuen Liegeboxlaufstall mit optimalen Bedingungen für unsere Tiere."

Der offentlichtlichste Widerspruch zu dieser Aussage ist, dass ich in Welsickendorf noch nie Kühe auf einer Weide gesehen habe. Es geht also wohl offenbar mehr um "Produktion", also um das "Wohl unserer Tiere."

Wenn man die Tiere artgerecht auf der Weide wiederkäuen ließe, dann könnte man sich auch übrigens Seminare zur Vermeidung von Hitzestress in Ställen sparen.

Das ist aber leider nicht der ganze Teil der für die Tiere traurigen Realität in Welsickendorf (und darüber hinaus). Ein weiteres Kapitel im Buch des Tierleids heißt "Milchleistung". Ein Begriff, der schon zeigt, dass die Rinder als reine Investitionsobjekte gesehen werden. Wie aus diesem Dokument hervorgeht, verfügt die Agrargenossenschaft Welsickendorf über sogenannte Hochleistungsrinder, die 9.848 Liter Milch pro Kuh und Jahr aus ihren Eutern zur Verfügung stellen müssen. In diesem Artikel heißt es zum Thema:

Hochleistungskühe geben rund 10.000 Liter Milch im Jahr [...] In den 50er-Jahren war eine Kuh mit 6000 Liter Milch pro Jahr schon ein Wunderwerk", sagt Hans Foldenauer, Sprecher des Bundesverbands Deutscher Milchviehhalter (BDM).

Tagesschau

Tierschützer kritisieren diese Überzüchtung, die zu starken gesundheitlichen Problemen bei den Kühen führt und dafür sorgt, dass sie viel früher sterben als normalerweise. In freier Wildbahn können es 20 Jahre Lebenserwartung sein, als Hochleistungs-Milchkuh sind es kurze 5-6 Jahre. Das Tierleid, das mit dieser übermäßig angezüchteten Milchproduktion einhergeht, wird in vielen Artikeln ausgiebig erläutert und begründet. Für die Ernährung eines Kalbs würde eine weibliche Kuh natürlicherweise nur ein Drittel der Milch in ihrem Euter produzieren - im Vergleich zur überzüchteten Kuh im Hochleistungsstall.

Und wo wir schon mal bei den Fragen der Tierproduktion sind. Eine Frage, die grundsätzlich zur Diskussion gestellt werden muss, ist, wie viel Prozent der landwirtschaftlichen Flächen für Tierfutter verwendet werden sollte und eine andere, ob Agrargüter wie Milch in großem Maßstab exportiert werden sollten (die Exportquote in Deutschland beträgt rund 50%).

Die Grundfrage lautet also: Muss Milch für einen Dumpingpreis hergestellt werden? Von der wahnwitzigen Überproduktion von Fleisch in Deutschland möchte ich an dieser Stelle gar nicht erst anfangen.

Es sollten meiner Meinung nach nicht immer nur die ökonomischen Argumente triumphieren. Es ist doch wichtig, eine moralische Haltung zu entwickeln. Nur eine solche ist ein taugliches Fundament für eine ökologisch nachhaltige und damit zukunftsfähige Landwirtschaft.

Die Systemfrage und die Meinungsäußerung von Leuten aus Wochenendhäusern

Und, da Sie sich zurecht über die zu niedrigen Preise für Agrarprodukte beschweren, müssen Sie schon auch bereit sein, die Systemfrage aufzuwerfen und den "freien Markt" infrage zu stellen. Fordern wir von der Politik doch gemeinsam Mindestpreise für Agrarprodukte, Schutzzölle und Mindeststandards für Agrarimporte im Sinne der Ökologie und des Tierschutzes.

Sie beklagen massive Ernteausfälle durch Klimaextreme in Folge des menschengemachten Klimawandels zum einen sowie zum anderen ins Bodenlose gefallene Milchpreise. Um den Klimawandel zu entgegnen, würde ich vorschlagen, auf Windkraft-Planer zuzugehen mit dem Ziel, mehr Windkraftanlagen um Welsickendorf herum aufstellen zu lassen. Mit solchen Einnahmen von schätzungsweise 20.000 Euro pro Anlage und Jahr könnten Sie fallende und insgesamt existenzbedrohend niedrige Milchpreise ausgleichen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Meinungsäußerungen von Leuten, die nur sporadisch in ihren Wochenendhäusern aufschlagen, aber ansonsten nicht integriert sind in lokale Zusammenhänge, aus Ihrer Sicht der Kategorie "Anschuldigung" und fachlich "nicht fundiert" zugerechnet werden. Mir geht es mit diesem offenen Brief aber nicht um verbale Angriffe oder eine abstrakte Romantisierung von Landwirtschaft, sondern ich möchte ernsthaft und mit Argumenten auf Ihr Schreiben antworten.

Ich halte den direkten Dialog und eine öffentliche Diskussion zum Thema für unerlässlich und möchte in diesem Sinne anregen, eine Diskussionsveranstaltung vor Ort zu organisieren - und zu dieser Bürger wie Landwirte und Lokalpolitiker einzuladen.

Ich freue mich auf eine weiterhin gute Nachbarschaft und hoffe auf eine ökologische Wende - auch in Welsickendorf.

Viele Grüße
Ihr Nachbar