Oh, das Elend

Fußball und Orgasmus

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Mein Nachbar ist ein Fußball-Fan. Fußball-Fans sind mir unangenehm, sie lieben einen törichten und menschenverachtenden Sport, sie riechen nach Bier und niedrigen IQ-Werten, sie kotzen in den Sonderzug und schreien "Sieg Heil!" So einer ist mein Nachbar nicht. Ich habe ihn noch nie betrunken gesehen. Er riecht nicht. Wenn er ein Nazi ist, dann verbirgt er das konsequent. Aber trotzdem veranlasst ihn sein Fußballwahn zu schändlichem Tun.

Der größte Einrichtungsgegenstand in der Wohnung meines Nachbarn ist der Fernseher. Ich weiß das, weil er mich ein paar Mal in seine Wohnung gebeten hat, um Computerprobleme zu begutachten. Er glaubt aus irgend einem Grund, dass ich Ahnung von Computern habe. Etwa alle drei Monate klingelt er an meiner Tür, steht mit einer gewissen Dringlichkeit und Unmittelbarkeit da, und sagt:

Hey. Hasch XP. Windows. Wo isch mei CD?

Und dann gehen wir in seine Wohnung und schauen also nach dem CD-Laufwerk. Das Betriebssystem kennt es nicht mehr, wie ich nach ein bisschen Herumgeklicke feststellen kann. Er schraubt den Rechner auf, behandelt ihn dabei wie einen Sack Kartoffeln, und ich sehe: Ich sehe nichts. Außer, dass der Lüfter vom Prozessor abgefallen zu sein scheint, und lose im Gehäuse herumbaumelt, lustig vor sich hinsurrend. Ich zeige auf den baumelnden und surrenden Lüfter, und sage:

Das da, wie lange ist das schon so?

War schon immer so. Isch normal.

Ich verstehe nicht ganz und blinzele ihn an. Kurz denke ich daran, ihn mit der Tatsache zu konfrontieren, dass sein Computer eigentlich kaputt ist und dringend zum Service müsste, aber die Antwort kann ich mir vorstellen: "Der Rechner läuft doch, was willsch denn". Ich wende mich noch einmal dem Problem des CD-Laufwerks zu. Ich versuche, meinem Nachbarn irgendwas über Gerätetreiber zu erzählen. Wer weiß, ob's daran liegt. Aber ich habe einen Ruf zu verteidigen. Ich muss ein wenig schreien, weil der Fernseher so laut ist. Der Fernseher ist erstaunlich groß, und er hat erstaunlich leistungsfähige Lautsprecher. Mein Nachbar kapiert nichts und nickt. Dann sagt er:

Isch ok. Mach ich. Kuck ich danach. Isch korrekt.

Ich nicke auch und gehe. Mein Nachbar ist eine gute Seele, seine Bedürfnisse sind einfach, er ist im Grunde völlig harmlos.

Nur manchmal wird er zum Tier. Dann muss er schreien. Dann quält ihn der Wahn. Wenn Fußball im Fernsehen kommt. Vor allem wenn es ein Fußball-Länderspiel gibt, wenn die Europa- oder die Weltmeisterschaft stattfindet. Dann läuft der große Fernseher auf vollen Touren, und mein Nachbar muss es rauslassen, weil es ihn gepackt hat. Bei jedem Eckstoß, bei jeder Torchance, bei jedem Foul brunftet, röhrt, donnert mein Nachbar den Fernseher an, und der Fernseher brunftet, röhrt und donnert zurück, und beide sind ein Arsch und eine Seele.

Beim ersten Mal dachte ich, oh Schreck. Mein angeblich völlig harmloser Nachbar ist überhaupt nicht harmlos. Er reißt vergammelten Kinderleichen das Fleisch mit den Zähnen von den Knochen und wütet dazu gegen den Mond an, wie ein Werwolf, wenn er gerade Beute gemacht hat. Denn so klang es. Dann war eine Zeit lang Ruhe, und ich verdrängte und vergaß. Später aber erschloss sich mir der Zusammenhang. Es war Sommer, irgendein internationales Fußballturnier fand statt, und mein Nachbar kreuzte auf dem Hof meinen Weg, in den Farben der deutschen Nationalmannschaft. Abends wieder das Gebrunfte und Geröhre. Da wusste ich, es ging um Fußball, und alles war so gut, wie es beim mangelhaften Zustand der Welt nur sein konnte. Aber ging es wirklich nur um Fußball?

Bei der nächsten Brüllorgie hörte ich ein wenig genauer hin und fand, dass sein Geächze eine spezielle Note hatte. Mein Nachbar ist schmächtig, er hat keine Freundin. Aber wenn der Fußball von ihm Besitz ergreift, wird er für neunzig Minuten zu einem Liebhaber in den letzten Sekunden des Akts. So denke ich jetzt jedes Mal: Schrei doch nicht so herum. Geh doch bitte ficken, wegen meiner auch im Gewerbegebiet, mach doch mal was gegen deinen Samenstau. Neulich war’s gar arg zu spät. Mein Nachbar schrie und winselte sich die Kehle aus dem Leib, ich aber wollte schlafen. Da klopfte ich an die Wand, und das Geschrei erstarb sofort. Tief in der Nacht fing er dann an zu hämmern und zu bohren, wahrscheinlich, weil er nicht mehr wusste, wohin mit seiner angestauten fußballerotischen Triebenergie. Und ich dachte: Oh, das Elend. Und fürchtete mich noch mehr vor der kommenden WM als ohnehin schon.