Orbán erinnert die geopolitische EU an ihr Demokratiedefizit

Seite 2: Die EU, die USA und der Machtwechsel in Polen

In einem Interview mit dem Spiegel vom Juli 2021 hat der langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, jene beiden neuerlichen Ausprägungen des Demokratiedefizits bereits benannt und diese mit Carl Schmitt als Doppelbewegung von inwärtiger Stabilisierung und auswärtiger Mobilisierung beschrieben.

Dieser – um den eingangs genutzten Begriff zu bemühen – "Stabilokratie" der EU setzt Streeck eine "dezentrale Staatenordnung" entgegen, die "kooperativ statt supranational", "genossenschaftlich" statt "imperial-hierarchisch" funktioniert.

In besagtem Spiegel-Interview warnte Streeck auch – vor dem Hintergrund der Rechtsstaats-Sanktionen gegen Polen – vor einer "Übervereinheitlichung der EU" und dem unverhältnismäßigen Eingriff in die nationale Souveränität. Im Wortlaut:

Aktuell gibt es die Bestrebungen des Zentrums (damals vertreten durch Deutschland und Frankreich, P.F.), in Polen und Ungarn durch Entzug oder Kürzung der EU-Zuschüsse einen Regimewechsel herbeizuführen – in Polen unter dem Motto: zurück zu Tusk.

Wolfgang Streeck: "Die EU ist zum Scheitern verurteilt", Spiegel am 16. Juli 2021

Diese Bestrebungen haben spätestens am 11. Dezember Erfolge gezeitigt, die der neu gewählte Premier Tusk nun mit dem "Umbau" des Staats- und Medienapparates weiter vorantreibt. Für Streeck dürften sie außerdem ein weiteres Zeugnis jener "imperial-hierarchischen" Tendenzen ablegen, die die EU zu einer "Nato-Dependance" und einem "Auffanglager für künftige Nato–Mitglieder" herabwürdigen, wie Streeck im September 2023 im Magazin Makroskop formulierte.

Streecks Argumentation schließt dabei unmittelbar an die im Spiegel-Interview angesprochene Doppelbewegung an:

Fürs erste jedenfalls scheint der russische Einmarsch in der Ukraine die Frage nach der postneoliberalen europäischen Ordnung beantwortet zu haben, indem er das lange Zeit als überholt angesehene Modell des Kalten Krieges wiederbelebt hat: ein unter amerikanischer Führung geeintes Europa, das den Vereinigten Staaten als transatlantischer Brückenkopf in ihrer Konfrontation mit einem gemeinsamen Feind – damals die Sowjetunion und heute Russland – dient.

Die Eingliederung in einen wiederauferstandenen, remilitarisierten "Westen" mit neuen Funktionen als europäische Unterabteilung der Nato, letztere auch bekannt als das amerikanische militärische Establishment, scheint die EU vorerst gegen die zerstörerischen Zentrifugalkräfte geschützt zu haben, die seit langem an ihr zerren, freilich ohne sie für immer zu beseitigen.

Durch die Wiederherstellung des Westens neutralisierte der Krieg die vielfältigen Bruchlinien, an denen die EU bis vor kurzem zu scheitern drohte, und verstärkte gleichzeitig die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten über Westeuropa, einschließlich seiner internationalen Organisation, der Europäischen Union

Wolfgang Streeck: Die EU, die NATO und die nächste Neue Weltordnung, Makroskop

Die EU – "Made in America"

Die Rückkehr zu einer Politik des Kalten Krieges zeigt sich nicht nur in dem öffentlichen Einfluss, den neokonservative Stimmen wie die eines George Friedman oder einer Viktoria Nuland im Zuge des Ukraine-Kriegs gewonnen haben.

Auch die EU selbst fällt damit auf das zurück, wofür der europäische Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere von den Vereinigten Staaten offiziell sowie auch inoffiziell gefördert worden war und dem sie Kritikern zufolge ihre eigentliche Existenz verdankt: die Funktion als Bollwerk gegen den Kommunismus (siehe Economist: The EU – Made in America und American Committe on a United Europe).

Vor diesem Hintergrund leuchtet auch das Interesse der EU an den osteuropäischen und ehemaligen Ostblock-Staaten und "Stabilokratien" nach dem Vorbild Serbiens ein. Ebenso wie dasjenige an einer Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips mit Blick auf "russlandfreundliche" Staaten wie Ungarn und Slowakei:

In einer Europäischen Union, die sich für einen unbestimmten Zeitraum in so etwas wie einen supranationalen paramilitärischen Hilfsdienst verwandelt, werden die Staaten an ihrer Ostfront die gemeinsame außenpolitische Agenda weitgehend bestimmen können.

Dabei werden sie von den Vereinigten Staaten unterstützt, die ein geostrategisches Interesse daran haben, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch in Schach und von Westeuropa getrennt zu halten.

Dies dürfte dazu führen, dass die USA mit Hilfe ihrer osteuropäischen Verbündeten und vermittelt durch die Nato faktisch an die Stelle des Möchtegern–Doppelhegemons der Union, des deutsch–französischen "Tandems", treten.

Wolfgang Streeck, Makroskop

Vielleicht liegt Streeck diesmal ja falsch. Russischen Medien jedenfalls ist es bereits eine Meldung wert, wenn James C. O’Brien, Assistant Secretary of State for European and Eurasian Affairs, öffentlich fordert, dass das "neue" Polen unter Donald Tusk eine "führende Rolle in der Europäischen Union" spielen soll.