Organisierte Rechtlosigkeit?
Seite 2: Sog-Anreize reduzieren
Dennoch wird das schwarz-gelbe Regierungsbündnis seine Politik nicht verändern. Die Kommunen sollen entlastet werden. Dazu hatte Integrationsminister Joachim Stamp bereits im November letzten Jahres der Presse mitgeteilt: "Wir müssen konsequenter zurückführen. Idealerweise finden die Verfahren komplett in Landeseinrichtungen statt, von wo aus diejenigen mit Aufenthaltsgenehmigung in die Kommunen verwiesen werden und alle anderen in die Heimatländer direkt zurückreisen." Wenn das als System funktioniere, brauche man auch keine "Scheindebatten über Obergrenzen" zu führen.
Einen Monat zuvor hatte Stamp sein Rezept beschrieben, die "Sog-Anreize deutlich reduzieren" zu können, "wenn die Asylverfahren komplett in Landeseinrichtungen durchgeführt werden und es dort für die ersten vier, fünf Monate bis auf ein minimales Taschengeld nur Sachleistungen gibt." So wurde es umgesetzt. Erwachsene Singles erhalten derzeit 31 Euro pro Woche, Ehepartner je 28 Euro und Kinder 17 Euro.
Die Flüchtlingshilfe Lippe e.V. soll bleiben
Auch diese Forderung steht auf der Petition. Weil Svenja H., studierte Sozialpädagogin, sich kritisch über die Zustände in der ZUE Oerlinghausen geäußert hatte, wurde sie im Januar wegen "Illoyalität" gegenüber der Landesregierung entlassen. Obwohl die Asylverfahrensberatung laut Arbeitsauftrag als "ein von staatlichen Instanzen unabhängiges, spezialisiertes Arbeitsgebiet der Flüchtlingsarbeit" definiert ist, ja sogar als "Wächteramt" begründet wird und "Öffentlichkeitsarbeit" ausdrücklich vorsieht. Vier Mitarbeiter des Vereins, der Mitglied der Diakonie ist, haben ihre Arbeit in der ZUE beendet.
Der Vorstand der Flüchtlingshilfe Lippe e.V stellte sich ausdrücklich hinter sein Team in Oerlinghausen: "Dies sind alle integre, kompetente und engagierte junge Menschen, die sich immer auch um transparente Zusammenarbeit bemüht haben. Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, wie verletzend hier mit ihnen umgegangen worden ist", sagte Irmingard Heine vom Vorstand. "Unsers Wissens ist dies das erste Mal, dass das Land NRW so massiv in Personalentscheidungen von unabhängigen Beratungsträgern eingreift. Der Verein sieht dahinter die Absicht, einen unbequemen Fürsprecher für die Geflüchteten aus der ZUE Oerlinghausen hinaus zu drängen."
Closed Shops
Kein Wunder, dass BeraterInnen der 34 ZUE in Nordrheinwestfalen gegenüber JournalistInnen schweigen. Berichterstatter werden bei Besuchen auf Schritt und Tritt von bis zu sechs Vertretern der Einrichtungsleitung und der Bezirksregierung begleitet und dürfen nur bestimmte Räume ansehen. Auch die Verfahrensberaterinnen dürfen sich nicht frei auf dem Gelände bewegen und die von Insassen berichteten Mängel selbst in Augenschein zu nehmen.
Selbst die Einrichtungsleitungen oder Träger - meist große Wohlfahrtsverbände - unterliegen dem Schweigegebot. Ausschließlich die Bezirksämter dürfen Auskunft geben. Die Bezirksregierung Düsseldorf untersagt mit dem Verweis auf den Schutz der "Privatsphäre" gleich vollständig den Besuch von Journalisten in ihren sieben ZUE, davon eine Schwerpunkteinrichtung in Willich. Auf Anfrage heißt es, eine rechtliche Grundlage für die Verweigerung gebe es nicht.
Fakt ist, dass kaum Informationen aus dem Innenleben der ZUE nach draußen gelangen. In Bonn ist es wieder nur die Mitarbeitern eines kleinen Vereins, der in seinen Räumen Deutschkurse für Bewohnerinnen anbietet, die über zum Teil "problematische" Zustände in der "Schwerpunkteinrichtung" des Regierungsbezirkes Köln spricht: Neun bis zehn Personen verschiedenen Alters seien in einem Zimmer untergebracht; es komme zu Schlägereien untereinander; im Dezember habe man Jugendliche in Sommerjacken angetroffen; wer die Taschengeldausgabe verpasse, müsse eine Woche warten, Duschen und WCs stünden unter Wasser. Über den Wahrheitsgehalt kann sie nichts sagen. Die Vereinsmitglieder haben keinen Zugang.
Über die ZUE Ibbenbüren - ein Containerdorf für 960 Insassen, im Schatten eines Kohlekraftwerks - berichtet die Stadträtin der LINKEN, Maria Frank, von medizinischen Notfällen, die nur durch den Einsatz privater Ärzte gelöst werden konnten. Die Wohnräume seien "zu eng" - zum Beispiel seien zwei Familien in einem Raum untergebracht. Und das Essen müsse in Schichten eingenommen werden. Die Kantine fasse nur 100 Personen. Auf die Frage, warum in der ZUE auch Familien und Menschen mit "guter Bleibeperspektive" wohnten, habe die Pressevertreterin der Bezirksregierung Arnsberg geantwortet, das mache man "wegen der Mischung", "damit das soziale Leben dort etwas abgepuffert" werde. 2017 war es zu Schlägereien mit der Polizei gekommen.
Modell für den Bund
Flüchtlingsorganisationen haben vor den von der Großen Koallition geplanten AnKER-Einrichtungen gewarnt. Dort sollen "Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung bzw. Rückführung" stattfinden. Pro Asyl hatte kritisiert, Asylsuchende würden "kaserniert" und "isoliert". Die Pläne der Koalition seien "Teil einer immer schärfer werdenden Abschottungspolitik".
Der Flüchtlingsrat NRW hatte bereits im Oktober letzten Jahres "isolierte Großunterkünfte" als "stigmatisierende Zeichen der Ausgrenzung" und als "Desintegratonszentren" bezeichnet, in denen "Flüchtlingen über lange Zeit hinweg der Zugang zu Schule, Arbeit, neuen Nachbarn und Ehrenamtlichen versperrt wird."
Rechtsschutz wird ausgehöhlt
Schwer erträglich, manchmal auch kaum durchschaubar ist für die Geflüchteten, wie stark ihr Recht auf ein faires Asylverfahrens durch die Beschleunigung geschliffen wird.
Svenja H. von der Flüchtlingshilfe Lippe berichtet aus der Praxis: Geflüchtete kommen zum Beispiel mit einem negativen Asylbescheid in die Beratung und bitten um einen Anwalt. Dann beginnt ein Hürdenlauf: "Die meisten AnwältInnen nehmen eine Anzahlung von 200 Euro und mehr." Das bedeute acht Wochen sparen. Und danach mehrere Monate warten auf einen Anwaltstermin. "Dabei läuft die Klagefrist gegen ihren Asylentscheid schon in zwei Wochen ab."
Asylbewerber aus bestimmten Ländern wie dem Westbalkan oder Indien würden oft wegen zu großer Arbeitsbelastung der Anwälte gar nicht erst angenommen. Falls dennoch das Kunststück gelinge, einen rechtzeitigen Termin zu ergattern, müsse noch ein Dolmetscher und das Geld für die Fahrt zum Anwalt organisiert werden. Im Ergebnis führe die schnellere Entscheidungspraxis zu Rechtlosigkeit. "Theoretisch müsste bereits bei der Ankunft in Deutschland ein provisorischer Termin in einer Kanzlei gemacht werden."
Flüchtlingsunterstützer kritisieren, dass es der Politk nur noch auf höhere Abschiebezahlen ankomme. Das Recht des Einzelnen auf ein faires Asylverfahren oder Schutz besonders verletzlicher Menschen seien unwichtig geworden. "Dieser faktische Ausschluss vom Zugang zu Rechtsmitteln scheint bedauerlicherweise geradezu gewollt", schreibt der Flüchtlingsrat NRW in einer Stellungnahme vom Oktober. "Wer doch rechtlichen Beistand findet und gegen eine Entscheidung vor Gericht zieht, den erwarten bei der aktuellen Überlastung der Verwaltungsgerichte weitere Jahre im Lager."