Organisierte Rechtlosigkeit?
- Organisierte Rechtlosigkeit?
- Sog-Anreize reduzieren
- Rechtliche Regelungen für Zentrale Unterbringungseinrichtungen und Abschiebungen
- Auf einer Seite lesen
Abschiebelager in Nordrheinwestfalen
Die Sonne scheint in den spärlich möblierten Caféraum eines Supermarktes in Stukenbrock, der 30 000-Seelen-Gemeinde südlich der hübschen "Bergstadt" Oerlinghausen. Zwei Ehepaare aus Albanien, eine Alleinerziehende, die anonym bleiben will und vier Kinder sind bereit, über ihr Leben in der ZUE Oerlinghausen zu berichten.
Die 12-jährige D. sagt, zu Hause sei Literatur ihr Lieblingsfach gewesen. Jetzt könne sie nur zwei Stunden täglich an einem Deutschkurs teilnehmen. Von einem Blatt Papier liest sie ab: "Bitte geben Sie mir Chancen, in die Schule zu gehen, ich möchte lernen. Das macht mir Spaß." Die achtjährige Ilirjana mit der rosa Schleife im Haar nickt: "Ich möchte Schule, ich möchte lernen, ich möchte alles."
Ihre Eltern, Zejenepe und Burim A. finden, das Lager, in dem manche schon anderthalb oder gar zwei Jahre zu untätigem Warten verdammt seien, sei ein sehr stressiger Ort für Kinder. Täglich patroullierten Polizeiwagen auf dem Gelände zwischen den zweistöckigen, schmutzig-gelben Gebäuden einer ehemaligen Suchtklinik.
"Heute morgen um fünf Uhr war es plötzlich sehr laut auf dem Flur", erzählt Zejenepe. Eine Familie wurde abgeschoben. Deren Kinder hätten laut geweint und ihre eigenen Kinder hätten sich sehr gefürchtet. Manchmal kämen sie mitten in der Nacht "zwischen eins und drei", fügt K., die Mutter von D., hinzu. Ihre Tochter habe das schon vier Mal miterlebt. "Einmal kamen sie mit 20 Polizeiwagen gleichzeitig und mit einem großen Bus." Dann höre man viele Kinder weinen.
Die Betroffenen hätten ganze 20 Minuten Zeit, um ihre Sachen zu packen, meint Ervis P., ein unerschrockener junger Mann mit fester Stimme, der aus dem Albanischen ins Englische übersetzt. Sie würden von Polizisten an Tür und Fenster bewacht, die ihnen "als erstes" die Handys abgenommen hätten, damit sie keine Hilfe rufen könnten.
Katastrophal sei auch die medizinische Versorgung in der ZUE, erzählen die Bewohner. Zejenepe leidet an einer üblen Varkose. Fünf Operationen hat sie schon hinter sich. Trotz eines Attestes aber habe sich einer der beiden Ärzte, die drei Mal pro Woche in der ZUE-Krankenstation Sprechstunden abhalten, geweigert, sie in ein Krankenhaus einzuweisen. Das musste schließlich ein Notarzt übernehmen. Nach ihrer Entlassung sollte sie regelmäßig zur Kontrolle wieder kommen. Auch das lehnte der Arzt ab.
Schlimmer noch: Svenja H., die zwei Jahre als Verfahrensberaterin in der ZUE gearbeitet hat, berichtet von psychisch labilen Menschen, die trotz fachärztlicher Bescheinigung einer Gefährdung in der ZUE keine Zuweisungen an eine Kommune erhalten hätten. Die zuständige Bezirksregierung Arnsberg habe oft über Monate nicht geantwortet. Svenja H. bleibt trotz ihrer Erschütterung sachlich und ruhig. Auf der Akte eines Patienten mit attestierter akuter Suizidalität habe sie den Aufkleber des Arztes gefunden: "Abwarten bis Asylgenehmigung." Andere seien dreimal in einem Monat nach Suizidversuchen in der Psychatrie gelandet.
Offenbar sei "der Stand des Asylverfahrens viel wichtiger als eine mögliche Gesundheitsgefährdung", so Svenja H. "Das sind keine Einzelfälle. Meiner Meinung nach ist das fahrlässig und unterlassene Hilfeleistung." Überdies habe sie der Bezirksregierung Arnsberg Mitte 2017 eine Liste von 40 "besonders vulnerablen" Personen vorgelegt - also Menschen, die Folter und schwere Misshandlungen erlebt haben, Schwerkranke, schwer psychisch Beeinträchtige, Alleinerziehende mit minderjährigen "auffälligen Kindern", Dialysepatienten, Krebskranke und Behinderte. Bis heute ohne jedes Ergebnis.
Petition der Geflüchteten
"Wir können den Arzt nicht brauchen", meint Ervis, "er gibt jedem immer den gleichen Rat: 'Trink’ Wasser und mache Sport.' Sonst nichts. Das steht auch auf unserer Petition." Anfang Januar hatten 85 BewohnerInnen der ZUE Oerlinghausen die Petition unterschrieben hatten. "Es waren noch mehr Leute dafür, aber sie hatten Angst zu unterschreiben", sagt Ervis.
In dem Schreiben fordern die Asylsuchenden von der "deutschen Regierung" einen "menschenwürdigen Umgang" und sprechen sich gegen die Ärzte, gegen "ständige Polizeipräsenz auf dem Gelände" und gegen Abschiebungen aus. Außerdem verlangen sie den "Zugang zu öffentlichen Schulen" für ihre Kinder, bessere psychologische Betreuung, bessere Hygiene in den Sanitärräumen, weniger Personen pro Zimmer, kürzere Aufenthaltszeiten in Flüchtlingsunterkünften und eine Arbeitserlaubnis nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland.
Derzeit leben 338 Geflüchtete aus Ländern des Westbalkans sowie aus Georgien, Somalia, Indien und Pakistan in der ZUE, davon 120 Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre; insgesamt bietet sie Platz für 600 Personen. Kommen und Gehen der Insassen werden per Bewohnerausweis elektronisch überwacht, Flutlicht und Überwachungskameras kontrollieren auch nachts den Eingang und das gesamte Außengelände. Besuch ist nicht erlaubt.
"Das ist wie im Gefängnis", sagt Ervis. Ihn stört auch sehr, dass nur ein einziges TV-Gerät vorhanden ist, dessen Programm sie nicht selbst auswählen können. W-Lan oder PCs - Fehlanzeige. K. hat Bedienstete nach den Gründen für diesen Mangel gefragt. Es seien viele Kriminelle im Lager, habe die Antwort gelautet. "Die machen Verbindungen mit anderen, darum hat die Polizei W-Lan verboten." Außerdem sei dies keine normale Unterkunft, sondern eine für Abschiebekandidaten.
Tatsächlich war es in der Umgebung der ZUE vermehrt zu Einbrüchen in Eigenheimen und Diebstählen gekommen - ein monatelanges Aufreger-Thema in der Stadt. Nachdem Mitte Februar mehrere Tatverdächtige aus der ZUE verhaftet wurden, hat die Landesregierung angekündigt, die ZUE auf 300 Personen zu verkleinern - zunächst für ein halbes Jahr.