"Ossis" gestern und Griechen heute

Jörg Roesler über das DDR- und Griechenlandbild in der Öffentlichkeit und der Realität

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Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler sieht Parallelen zwischen dem westdeutschen Bild von der DDR und dem heutigen deutschen Bild von Griechenland. Ihm zufolge stürzt sich das Image in beiden Fällen nicht nur auf Tatsachen, sondern auch auf Ressentiments, die über Medien und die Politik verbreitet werden.

Herr Roesler, wenn Sie das Bild von den "Griechen", das heutzutage durch die Medien schwirrt, mit dem der "Ossis" nach der Wiedervereinigung vergleichen, welche Ähnlichkeiten können Sie ausmachen?
Jörg Roesler: Es gibt verblüffend viele Ähnlichkeiten und diese betreffen ganz wesentliche Probleme. Erstens: Den Arbeitenden in beiden Ländern wurde beziehungsweise wird vorgeworfen, dass sie sich beim Arbeiten nicht genügend anstrengen. Bei den Griechen wird dabei eine angebliche mediterrane Mentalität ins Gespräch gebracht. Die Ostdeutschen, so hieß es, hätten das Arbeiten verlernt. Sie seien durch vier Jahrzehnte Staatssozialismus verdorben und aus disziplinierten und fleißigen Preußen zu "faulen Ossis" geworden.
Zweitens: Das Zurückbleiben in der wirtschaftlichen Entwicklung habe auch damit zu tun, dass die leitenden Funktionen im Staat in der DDR wie in Griechenland nicht nach Sachverstand, sondern nach Parteizugehörigkeit verteilt wurden.
Dadurch habe sich drittens die wirtschaftliche Leistungskraft der DDR wie auch Griechenlands immer mehr verringert, was sich am deutlichsten im stetig wachsenden Außenhandelsdefizit ausdrückt.
Ungeachtet dessen hätten viertens die Herrschenden in der DDR wie auch in Griechenland weiterhin noch Wohltaten an das Volk verteilt, als das Land bereits von der Substanz lebte, weil sie fürchteten, sonst den Volkszorn herauszufordern und die Regierungsgewalt zu verlieren.
Um gegenüber ihren Wirtschaftspartnern, ja - gegenüber der Welt zu verbergen, dass man große wirtschaftliche Schwierigkeiten hat, hätten die DDR - wie die griechische Regierung - fünftens ihre Wirtschaftsdaten gefälscht.
Sechstens hätte sich infolge falscher Wirtschafts- und Sozialpolitik die DDR ebenso wie Griechenland blindlings immer mehr verschuldet. Die Zahlungsunfähigkeit war so fast unvermeidlich, die DDR und Griechenland gingen bankrott (beziehungsweise der Bankrott konnte nur durch Hilfe von außen verhindert werden).
Eine siebente Gemeinsamkeit in den Auffassungen von der DDR beziehungsweise von Griechenland ist deren Überzeugung, dass die Schuld für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere die DDR beziehungsweise die Griechen (Volk wie Regierung) ganz allein tragen. Externe Ursachen, eventuell sogar eine west- beziehungsweise gesamtdeutsche Mitverantwortung, werden einfach nicht in Betracht gezogen.
Geben diese Auffassungen die Wirklichkeit wieder oder sind sie schwerwiegend ideologisch verzerrt und lassen sich darin sogar rassistische Argumentationsmuster erkennen?
Jörg Roesler: Was die Bezeichnung "rassistisch" betrifft, so ist sie meines Erachtens zu hoch gegriffen. Die Ostdeutschen und Griechen haben die gleiche Hautfarbe wie die Westdeutschen, anders etwa als in den USA die Latinos und Afroamerikaner – gegenüber denen die "weißen Amerikaner" Vorbehalte ganz ähnlicher Art äußern.
Wohl aber war (beziehungsweise ist) die Sicht auf die Ostdeutschen (beziehungsweise Griechen) von der Überzeugung der Mehrheit der Deutschen geprägt, deutlich fleißiger und tüchtiger zu sein. Sie fühlen sich als "Staatsbürger erster Klasse".Von dieser Warte aus werden die anderen als Deutsche beziehungsweise EU-Bürger zweiter Klasse abgestempelt und aus dieser Sicht beurteilt.

"Die Deutschen arbeiteten 2011 um ein Drittel weniger als die Griechen"

Es handelt sich also um ideologische Verzerrungen?
Jörg Roesler: Um schwerwiegende ideologische Verzerrungen handelt es sich bei diesen Urteilen wohl schon, denn sie geben in der Regel sehr einseitig die Wirklichkeit wieder. Oft ignorieren sie schlankweg Fakten. Nehmen wir zum Beispiel die "Faulheit", die Ost-Deutschen wie Griechen oft zum Vorwurf gemacht wird. Gewiss: Die Arbeitsintensität ist in der DDR beziehungsweise Griechenland sicher geringer gewesen. Wo aber beginnt die Faulheit? Und ist das westdeutsche "Fleißniveau" wirklich wünschenswert? Ist es nicht überzogen? Die wachsende Zahl der burn outs und Frühverrentungen aus gesundheitlichen Gründen spricht jedenfalls nicht für die Bundesrepublik.
Direkt vergleichbar ist die Länge des Arbeitstages. Daran gemessen waren Ostdeutsche und sind die Griechen fleißiger als die Bundesbürger. Nachmessbar ist auch die Jahresarbeitszeit: Die Deutschen arbeiteten 2011 nach OECD-Angaben im Durchschnitt um ein Drittel weniger als die Griechen (1.390 im Vergleich zu 2.119 Stunden). Und während die Beschäftigten in der Bundesrepublik in den 80er Jahren von der 40-Stunden-Woche auf die 35-Stundenwoche zusteuerten wurden in der DDR 43 ¾ Stunden gearbeitet.

"Gegen das Ossi-Bild kämpfen selbst Fachwissenschaftler vergeblich"

Welche Rolle spielte das in den Medien vermittelte Bild der DDR in Westdeutschland bei der Entstehung des Bildes vom "Ossi"?
Jörg Roesler: Meines Erachtens die entscheidende Rolle. Das Bild vom Ostdeutschen wurde nicht geprägt durch die Hunderttausende, die nach der Maueröffnung im Westen Arbeit aufnahmen oder durch diejenigen "Wessis", die (von der Treuhand in den neuen Bundesländern als Betriebsleiter eingesetzt) Positives über die Arbeitsweise und Arbeitsauffassung der Ostdeutschen berichten konnten, sondern von den Medien, die die Ostdeutschen als zu keiner Anstrengung bereit und für die Bewältigung der anstehenden Probleme unfähig charakterisierten, wie das, um nur ein Beispiel zu nennen, in dem Buch von Thomas Roethe: Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl - Ein Plädoyer für das Ende der Schonfrist nachzulesen ist.
Gegen das Ossi-Bild in den Medien kämpfen selbst Fachwissenschaftler vergeblich: Psychologen stellten schon Mitte 1992 fest, "dass sich die wirtschaftsrelevanten Nachteile in der Leistungs- und Persönlichkeitsstruktur bei Mitarbeitern in den neuen Bundesländern auf sehr wenige Teilbereiche beziehen".
Aber warum verhielten sich die Medien so?
Jörg Roesler: Eine treffende Antwort darauf hat meines Erachtens bereits besagte Ingrid Strateman gegeben: "Dadurch, dass die 'armen Ossis' alles schlechter machen, nichts produzieren, zu keiner Anstrengung bereit sind, wie dies in den Massenmedien verbreitet wird, erfahren die Bürger der alten Bundesrepublik ohne jedes Zutun eine soziale Aufwertung".
Mit anderen Worten: Die Medien schreiben (beziehungsweise berichten), was ihre Zuschauer (beziehungsweise Zuhörer) gern hören und lesen.
Diese Grundhaltung dürfte in den 90er Jahren wesentlich auch die Vorstellungen der westdeutschen Bevölkerung über andere Seiten des Lebens in der DDR bestimmt haben. Ebenso wie sie heute die Einstellung zu den Griechen mitbestimmt.
In welchen Bereichen ist diese Haltung besonders ausgeprägt?
Jörg Roesler: Zum Beispiel bei dem monierten Einfluss der Parteizugehörigkeit auf die Ämter- beziehungsweise Funktionsauslese. Das stimmt zunächst einmal sowohl für Griechenland als auch für die DDR. Mit dem Unterschied allerdings, dass sich in Griechenland, einer parlamentarischen Demokratie, ein Klientelparteiensystem herausbildete, bei dem zwei Parteien abwechselnd die Regierung stellten. In der autoritär regierten DDR war es dagegen nur eine Partei, die SED. Zumindest für die DDR gilt aber auch (und das bleibt meist unbeachtet): In Funktionen berufen wurde man in der Regel nicht ohne Absolvierung eines Studiums und unter Bezugnahme auf berufliche Erfahrungen. Parteizugehörigkeit allein reichte in der Regel nicht aus.

"Von maroder Wirtschaft kann kaum die Rede sein"

Und wie sieht der Zusammenhang beim von Ihnen bereits angesprochenen wachsenden Außenhandelsdefizit der DDR beziehungsweise Griechenlands aus? Ist das nicht ein Zeichen für nachlassende Exportfähigkeit und Indiz für eine marode Wirtschaft?
Jörg Roesler: Für Griechenland trifft dies seit dem EU-Beitritt 1981 zu. Was den Umfang des Exports betrifft, so liegt der griechische nur bei etwa der Hälfte des EU-Durchschnitts (24 und 44 %). Für die DDR lag der Anteil in den 80er Jahren zwischen beiden Werten (25 bis 30%). Was die Entwicklung des Exports – des Indikators für wirtschaftliche Leistungskraft – betrifft, so unterschied sich die Außenhandelssituation der DDR wesentlich von der griechischen.
Zwar hatte die DDR (gegenüber dem Westen) in den 70er Jahren und in der zweiten Hälfte der 80er Jahren ein beträchtliches Außenhandelsdefizit. In der ersten Hälfte der 80er Jahre verfügte sie dagegen durch gebündelte Exportanstrengungen über ein beachtliches Plus. Gegenüber dem sozialistischen Wirtschaftsgebiet – fast 70 % des Außenhandels wurden mit diesen Ländern abgewickelt – war das Handelssaldo zwischen 1979 und 1989 überwiegend (das heißt für sieben von elf Jahren) positiv. Daraus ergibt sich: An der Außenhandelsbilanz gemessen kann im Falle der DDR von maroder Wirtschaft kaum die Rede sein.

"Die Zusammenarbeit mit der DDR war im Bereich der Mikroelektronik verboten"

Haben die Bürokraten in Griechenland beziehungsweise der DDR nicht die Wirtschaftsentwicklung vernachlässigt und kaum etwas für deren Modernisierung getan?
Jörg Roesler: Für Griechenland dürfte das in etwa stimmen. An der Spitze der DDR-Wirtschaftslenkung standen jedoch keineswegs nur Bürokraten. Sie wussten um die Notwendigkeit der Modernisierung. Anfang der 70er Jahre hatte die DDR die mikroelektronische Revolution der CNC-Steuerungen (wie übrigens auch die Bundesrepublik) verschlafen, bemühte sich jedoch seit dem "Mikroelektronikplenum" 1977 mit großem Aufwand darum, diesen High-Tech-Zweig zu entwickeln, die Mikroelektronik in ihre Wirtschaft zu integrieren und ihre Exportprodukte damit zu veredeln. Dass das nicht gelang, lag mit großer Wahrscheinlichkeit daran, dass die DDR nicht – wie die Bundesrepublik in ganz ähnlicher Situation – mit den Japanern zum Aufholen kooperieren konnte. Durch die von den US-Amerikanern bestimmten und stets aktualisierten CoCom-Listen, durch Handelsverbote also, war westlichen Konzernen, auch den bundesdeutschen, die Zusammenarbeit mit der DDR im Bereich der Mikroelektronik verboten.
Zeitlich parallel verweigerte der militärisch-industrielle Komplex der UdSSR der DDR die Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Mikroelektronik, sodass der Aufbau einer Mikroelektronikindustrie in Ostdeutschland zu guter Letzt im Alleingang unternommen werden musste, gewaltig teuer wurde und letztlich nicht zu bewältigen war. Derart aufwendige Modernisierungsprogramme sind in Griechenland allerdings gar nicht erst unternommen worden.
Haben nicht beide Länder über ihrer ökonomischen Substanz gelebt?
Jörg Roesler: Dieser Vorwurf dürfte für beide Länder richtig sein. In der DDR wurden die Subventionen für Nahrungsmittel und Dienstleistungen des Grundbedarfs (also Lebensmittel, Verkehrstarife, Mieten et cetera), die sogenannte "zweite Lohntüte", nicht angetastet, weil mehrere Versuche, die ursprünglich von Honecker bei seiner Regierungsübernahme 1971 für unveränderlich erklärten Festpreise zu erhöhen, Unruhe unter der Bevölkerung hervorgerufen hatten.
Zwischen 1970 und 1987 stiegen die Ausgaben für Preisstützungen auf das fast Siebenfache, von 10,5 % auf 19,1 % des Staatshaushaltes. Weil aber beim Konsum nicht gekürzt wurde, fehlte es an Investitionsmitteln, um den Produktionsapparat in seiner ganzen Breite instand zu halten. Die Folge des überalterten Maschinenbestandes waren dann Stillstandszeiten und Stagnationserscheinungen im Bereich der Arbeitsproduktivität.

"Die DDR ist bis zum Schluss solvent geblieben"

Womit wir bei Themen Verschuldung und Bankrott wären ...
Jörg Roesler: Griechenland hat sich immer mehr verschuldet. Bemühungen in den 1990er Jahren, Staatsausgaben zu streichen und zaghaft Reformen einzuleiten, um die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren, wurden nach Griechenlands Beitritt zur Eurozone 2001 wieder aufgegeben. Griechenland war 2010 de facto zahlungsunfähig und wäre ohne Hilfe der EU bereits damals bankrott gegangen. Die Gefahr einer Staatspleite besteht heute erneut.
In der DDR setzte die Verschuldung Anfang der 70er Jahre ein. Sie erreichte einen kritischen Umfang in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, was bis 1981 seitens der Regierung komplett ignoriert wurde. Anders als in Griechenland wurden dagegen seit Anfang der 80er Jahre beträchtliche Anstrengungen unternommen und allein für die Petrolchemie 15 Milliarden DDR-Mark investiert, um die Verschuldung zu verringern. 1982 bis 1985 konnten die Nettoschulden der DDR von 25,1 auf 15,5 Milliarden gesenkt werden.
Diese Verringerung der Schulden um fast 40 Prozent war Resultat einer Umstrukturierung des Außenhandels, die zu Milliardenüberschüssen führte. Erst danach kam es 1989 wegen verschlechterter weltwirtschaftlicher Absatzbedingungen (aufgrund der fallenden Preise für Erdölprodukte, die das Rückgrat des umstrukturierten Westhandels der DDR bildeten) wieder zu einem Ansteigen der Schulden auf 19,9 Milliarden. Planerische Inkompetenz kann man also – anders als im Falle Griechenlands – der DDR-Regierung nicht nachweisen.
Um es kurz zu machen: Die griechischen Schulden stiegen fast kontinuierlich an, die Schulden der DDR waren in den 80er Jahren im Trend rückläufig. 1989 belief sich die Staatsverschuldung der DDR, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf circa 20 %, in Griechenland lag sie zu diesem Zeitpunkt bereits bei 80 %. Während Griechenlands Zahlungsunfähigkeit 2010 nur durch Eingreifen von außen verhindert werden konnte, hat die DDR bis zu ihrem Ende die fälligen Schulden einschließlich Zinsleistungen pünktlich bezahlt. Anders ausgedrückt: Die DDR ist bis zur Aufgabe ihrer Souveränität auf ökonomischen Gebiet (das heißt bis zur Währungsunion vom 1.7. 1990) solvent geblieben.

"Die Weltbank hatte sich zugunsten der DDR verrechnet"

Und haben Griechenland und die DDR, um eine bessere Wirtschaftslage vorzutäuschen, ihre Wirtschaftsstatistiken frisiert?
Jörg Roesler: Dass die Griechen ihre Wirtschaftsstatistiken frisierten, konnte inzwischen nachgewiesen werden. Für die DDR wird in diesem Zusammenhang gern auf Honecker verwiesen, der die DDR wiederholt als angeblich zehntgrößtes Industrieland der Welt bezeichnete. Die Zahlen hatte ihm allerdings nicht der statistische Dienst der DDR gefälscht, sondern Honecker bezog sich auf statistisches Material der Weltbank, die sich Ende der 70er Jahre, wie sie später selbst bekennen musste, zugunsten der DDR verrechnet hatte.
Die nach 1990 immer wieder in Medien und Politik behaupteten Fälschungen der amtlichen Statistik hat es, wie die zuständigen Bundesbehörden bei Überprüfungen nach der Wiedervereinigung feststellten, nicht gegeben. Der wichtigste Satz im Statement des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes Egon Hölder vom April 1991 über die Arbeit der Statistischen Zentralverwaltung der DDR lautet: "Das Ist-Ergebnis wurde streng kontrolliert und war weitestgehend richtig".
Auch die außenwirtschaftlichen Daten, die die DDR der "Bank für internationalen Zahlungsausgleich" in Basel übermittelte, entsprachen der Realität. Nach der Ermittlung der Zahlungsbilanz der DDR anhand der DDR-eigenen Daten durch die Deutsche Bundesbank hieß es dazu im Juli 1999: "Die vorhandenen außenwirtschaftlichen Daten der DDR konnten auf IWF-Muster umgestellt werden". Das heißt: Auch dieses statistische Material hatte sich als konsistent erwiesen.

"Die für Rüstung verausgabten Gelder konnten nicht investiv eingesetzt werden"

Und wie steht es mit der Behauptung, "die Griechen" beziehungsweise "die Ossis" - Regierungen wie auch Völker - haben an der wirtschaftlichen Misere ihrer Länder selbst die Schuld zu tragen?
Jörg Roesler: Die Annahme von der Alleinschuld ist in beiden Fällen schlichtweg falsch. Im Falle Griechenlands darf nicht vergessen werden: Die EU (und später die Eurozone) hat erstens nie ein Programm entwickelt, die bei der Gründung vorhandenen Unterschiede in der Leistungskraft der ökonomisch schwächeren an die der ökonomisch starken Mitgliedsländer anzugleichen. Sie hat nicht einmal etwas dagegen getan, dass diese Staaten (nunmehr ohne Zollschutz und Abwertungsmöglichkeiten) der Standortkonkurrenz voll ausgesetzt wurden, wodurch sie gegenüber den führenden Eurostaaten, vor allem Deutschland, immer weiter zurückblieben.
Zweitens wurde Griechenland mit dem Dublin-II-Abkommen ganz allein und ausschließlich die Aufgabe aufgebürdet, das Problem der illegalen Einwanderung in die EU aus Asien und Afrika über die Ägäis zu lösen. Die NATO-Staaten haben es drittens versäumt, die historischen Erzfeinde und nunmehrigen NATO-Partner Griechenland und Türkei zu versöhnen. Statt dessen blieb es bei einer Art Wettrüsten zwischen beiden Ländern.
Das kleine Griechenland gehört zu den fünf größten Rüstungsimporteuren der Welt, was es bundesdeutschen Herstellern von Rüstungsgütern erlaubte, mit Griechenland (und sicher auch mit der Türkei) Millionengeschäfte zu machen. Die für Rüstung verausgabten Gelder konnten nicht investiv eingesetzt werden und fehlten bei der Modernisierung der griechischen Wirtschaft.
Die größten externen Hindernisse für die Modernisierung der DDR (entsprechend den Anforderungen der "mikroelektronischen Revolution") waren das von den USA gesteuerte Embargo, an das sich auch die Bundesregierung hielt, und die sowjetische Kooperationsverweigerung.
Warum hat sich die SU geweigert, mit der DDR in Sachen Mikroelektronik zu kooperieren?
Jörg Roesler: Sie tat das aus Sicherheitsgründen. Die sowjetische Regierung war - sicherlich auch aufgrund von Informationen des KGB - der Meinung, dass es in Ostdeutschland an Westspionen nur so wimmele. Die würden sich dann leicht den neuesten Stand der Hightech-Entwicklung für militärische Zwecke in der Sowjetunion aneignen können. Aus verständlichen Gründen sollte das unbedingt verhindert werden. – Aber noch einmal zurück zum Thema: Der erzwungene Alleingang bei der Entwicklung der Mikroelektronik hat die DDR-Wirtschaft über Gebühr belastet ohne ihr den gewünschten Erfolg – die Wiederherstellung der früheren Exportfähigkeit – zu bringen.

"1971 wurde die Wirtschaftsreform wieder zurückgenommen"

Man könnte also schlussfolgern, das die DDR-Wirtschaft der westdeutschen nicht immer unterlegen war?
Jörg Roesler: Sie war es bis etwa Mitte der 70er Jahre nicht. In den Zeiten extensiven Wirtschaftswachstums, die auf unserem Globus in etwa bis zur weltweiten Wirtschaftskrise von 1974/75 reichten, konnte die DDR durchaus mithalten. Dafür gibt es genügend Zeugnisse von Wirtschaftswissenschaftlern aus dem Westen, die sich gründlich mit der DDR-Ökonomie beschäftigt hatten. Ich nenne hier nur den Havard-Absolventen und Deutsch-Amerikaner Wolfgang Stolper, dessen 1960 in den USA erschienenes Buch "Die Struktur der ostdeutschen Ökonomie" international große Aufmerksamkeit erregte, als Stolper aufgrund seiner Berechnungen zu dem Ergebnis kam: "Die Steigerung des Bruttosozialprodukts pro Kopf ist in beiden deutschen Staaten" ungeachtet der schlechteren Ausgangsbedingungen der DDR "nahezu gleich". Stolpers Ergebnisse lösten im Westen bei den einen Besorgnis, bei anderen Anerkennung aus. 1969 erschien Fritz Schenks Analyse der DDR-Reformwirtschaft der 60er Jahre, betitelt "Das rote Wirtschaftswunder".
1971, nach dem Sturz Ulbrichts durch Honecker, wurde die Wirtschaftsreform, die den Betrieben ein beträchtliches Maß an betrieblicher Entscheidungsfreiheit gegenüber den "wirtschaftsleitenden Organen" – ich nenne das jetzt einmal "Wirtschaftsdemokratie" – gebracht hatte, wieder zurückgenommen. Als ein Jahrfünft später weltweit extensives Wachstum durch intensives auf der Basis der Hochtechnologie abgelöst wurde, das von einer zentralen Planstelle nicht mehr so effektiv zu steuern war wie zuvor das extensive, konnte die DDR dann mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik nicht mehr mithalten.
Warum konnte sich das, was Sie Wirtschaftsdemokratie nennen, nicht auf die Dauer halten?
Jörg Roesler: Im 1964 eingeführten "Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖS) hatten die Betriebe zwei Aufgaben zu erfüllen. Erstens die – ihrer Zahl nach stark reduzierten – von der Planungszentrale und letztlich von der SED vorgegebenen Planaufgaben zu erfüllen und zweitens Gewinn zu machen. Dementsprechend ihre Erzeugung zu gestalten, oblag weitgehend den Unternehmen selbst.
In den Betrieben waren 1964 "Produktionskomitees" als "beratend und kontrollierend" tätige "gesellschaftliche Mitwirkungsorgane" entstanden. Honecker und andere Reformgegner in der SED-Führung betrachteten das Gewinnziel und die darauf orientierten betriebliche Aktivitäten als mit der "führenden Rolle der Partei" nicht vereinbar. Als Honecker 1971 Ulbricht als Parteichef ablöste und die Wirtschaftsreform beendete, wurden die Produktionskomitees als "nicht mehr zeitgemäß" abgeschafft.

Parlamentarische und direkte Demokratie

Wie demokratisch war die DDR überhaupt im Vergleich zur Bundesrepublik?
Jörg Roesler: Mit parlamentarischer Demokratie hatte die DDR-Führung nicht viel am Hut. Schon die ersten Wahlen nach Gründung der DDR ließen keine Entscheidung zwischen verschiedenen Parteien mit unterschiedlichen Programmen mehr zu. Rituell stimmten alle vier Jahre 99 Prozent der Bevölkerung für die Kandidaten der SED und für die Vertreter der mit ihr verbündeten Blockparteien, die auf der Einheitsliste standen. Frei entscheiden, ihrem Gewissen folgen, konnten die Abgeordneten der Volkskammer nur ein paar Mal. Gegenstimmen und Enthaltungen gab es zum Beispiel 1972 bei der Verabschiedung des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft.
Freundlicher war das Verhältnis der DDR-Führung zur direkten Demokratie. Sie wurde – anders als in der BRD auf Bundesebene – nicht gescheut wie vom Teufel das Weihwasser, aber nur selten angewandt. Die wichtigste Volksbefragung war wohl die Abstimmung über die (zweite) Verfassung der DDR 1968, bei der der Wähler größere Freiheit hatte, teilzunehmen (beziehungsweise dafür oder dagegen zu sein). Die Zustimmungsrate betrug dann auch "nur" 94,5 bei einer Beteiligung von 98 %.
Was die Mitbestimmung über die Wirtschaft betrifft, hat sie in den Betrieben besser funktioniert als in der Gesellschaft. Jedoch ist es den Regierenden in der DDR wie in der BRD weitgehend gelungen, die Belegschaften von einer echten Mitentscheidung über die Wirtschaftsstrategie in den Betrieben abzuhalten: Die Regierungen der BRD verteidigten die unternehmerischen Freiheiten. In der DDR wurden die Versuche von Arbeitsbrigaden, das ökonomische Profil ihrer Betriebe über die übliche Plandiskussion hinaus mitzubestimmen als "Syndikalismus" und als "linke Abweichung" bekämpft.
Wenn man über Demokratie in der DDR redet, darf man eines nicht aus dem Blick verlieren: Nach dem Mauerbau gab es keine Reisefreiheit mehr in der DDR, weder de jure noch de facto. Über die Einhaltung dieses Gebots (wie auch der vielen anderen, das Leben der DDR-Bürger regulierenden Bestimmungen) wachten das MfS und die Soldaten und Offiziere an der Mauer.
Über Stasiknast und Mauertote ist viel geschrieben worden. Wie viele Mauertote und Urteile gegen Stasi-Mitarbeiter nach der Wiedervereinigung hat es konkret gegeben?
Jörg Roesler: Im Ergebnis der Recherchen für ein gemeinsames Forschungsprojekt der Gedenkstätte Berliner Mauer und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam kamen zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer oder in unmittelbarem Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime 136 Personen um: Untersucht worden waren 374 Fälle, 15 Fälle blieben bei Abschluss der Untersuchungen 2008 noch ungeklärt.
Was Gesetzesverletzungen von MfS-Angehörigen betrifft: 251 Personen wurden angeklagt wegen Straftaten, die sie im Auftrag des MfS begangen haben sollen. Unter den Angeklagten befanden sich 182 hauptamtliche und 42 inoffizielle Mitarbeiter. Zwei Drittel der Strafverfahren endeten entweder mit Freispruch oder ohne Urteil. Ein Drittel der Personen wurde zu "äußerst milden Strafen verurteilt." Der Historiker Roland Schichau hat in seiner auch als Buch publizierten Untersuchung Strafverfahren wegen MfS-Unrechts den Richtern bei diesen Urteilen ein "rechtlich einwandfreies Vorgehen ohne politisch motivierten Verfolgungseifer" bescheinigt.
Zurück zur Verschuldung der DDR unter Honecker: Sehen Sie da Parallelen mit der BRD heutzutage?
Jörg Roesler: Bezüglich der Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland sehe ich keine Gemeinsamkeiten. Derartige Verschuldungen, wenn sie für die Bundesrepublik gegenüber dem einen oder anderen Land eintraten, ließen sich aufgrund des permanenten Außenhandelsüberschusses der BRD rasch korrigieren. In der DDR kam es zu einem Außenhandelsplus gegenüber dem Westen stets nur für einige Jahre. Das reichte nicht aus, um die Auslandsschulden auf ein geringes Maß abzubauen - geschweige denn, um eine ausgeglichene Zahlungsbilanz zu erreichen.
Was dagegen die innere Verschuldung betrifft, so ist sie sowohl in der DDR als auch der Bundesrepublik faktisch von Jahr zu Jahr gestiegen. Dabei hat die Regierung der DDR in den 70er und 80er Jahren genau wie die Bundesregierung in den beiden Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts das Ansteigen der Verschuldung zunächst mit einer beachtlichen Sorglosigkeit und dann mit zunehmender Hilflosigkeit zur Kenntnis genommen.
In den 80er Jahren haben dann in der DDR alle zur Verringerung der Schulden ergriffenen Maßnahmen nicht mehr wirklich gegriffen. Eine ähnliche Tendenz ist seit den 90er Jahren auch in der Bundesrepublik zu beobachten. Festgestellt werden kann, dass die innere Verschuldung sich 1989 in der DDR auf 7.000 DDR-Mark pro Einwohner belief. Das entsprach 83 % des Bruttoinlandsprodukts. In der BRD betrug die Pro-Kopf-Verschuldung 1989 15.000 DM. 2010 lag sie bei 24.607 Euro oder 60,7 % des BIP.

"Die Sachzwänge des kapitalistischen Marktes waren einfach nicht vorstellbar"

Wenn die Unterdrückung der DDR-Bevölkerung nicht jene Ausmaße und Brutalität erreichte, wie die Mehrheit der Bundesbürger heute glaubt: Warum haben die DDR-Bürger, als sie sich 1990 entscheiden konnten, die anonyme Gewalt der Sachzwänge innerhalb des kapitalistischen Marktes der persönlichen Gewalt im Sozialismus vorgezogen?
Jörg Roesler: Woran in diesem Zusammenhang die wenigsten denken: Die Wahrscheinlichkeit, wegen seines Verhaltens persönlich durch staatliche Organe bedroht und bestraft zu werden, betraf in erster Linie die Intellektuellen, die als Meinungsmultiplikatoren eher überwacht wurden und deren Verlautbarungen (beziehungsweise Veröffentlichungen), die das Bild, das die SED-Propaganda von der DDR malte, infrage stellen konnten.
Die Überwachung betraf kaum die Arbeiter und kleinen Angestellten. Das heißt, die Mehrheit der Bevölkerung blieb davon unberührt. Sie hatte im täglichen Leben und in den Betrieben auch eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, ihre persönlichen Interessen (beziehungsweise ihre Gruppeninteressen) unterhalb der Schwelle zu verfechten, ab der bei den Sicherheitsbehörden die Alarmglocken schellten.
Aber einmal davon abgesehen: Von den Sachzwängen des kapitalistischen Marktes ahnte die Mehrzahl der DDR-Bewohner nichts. Wenn diese ihnen (zum Beispiel durch das SED-Parteilehrjahr) vermittelt wurden, taten sie das als übertrieben geschildert ab. Das war für Bürger eines Landes, das dreieinhalb Jahrzehnte keine Arbeitslosigkeit und auch keine Obdachlosigkeit mehr gekannt hatte (und das über ein engmaschiges soziales Sicherheitssystem verfügte), einfach nicht vorstellbar.
Erst Monate nach der Öffnung der Mauer wurde die Gewalt ökonomischer Sachzwänge von ostdeutscher Seite wirklich zur Kenntnis genommen. In der im Frühjahr 1990 vom Runden Tisch ausgearbeitete Sozialcharta, die in die neue Verfassung der Bundesrepublik integriert werden sollte, wandten sich die "Bürgerbewegten" gegen "Sozialpolitik nach Marktlage". Die Sozialcharta war ein Versuch, jene anonyme Gewalt der Sachzwänge nicht zu Wirkung kommen zu lassen. Diese Absicht ist bekanntlich (wie der Versuch, das Grundgesetz der Bundesrepublik durch eine gesamtdeutsche Verfassung zu ersetzen) damals gescheitert.
Hat die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten – persönliche Gewalt und anonyme Gewalt der Sachzwänge –für die Mehrheit der DDR-Bevölkerung eine Rolle gespielt, als diese im März 1990 für die Wiedervereinigung optierte?
Jörg Roesler: Ich glaube nein. Die DDR-Bürger entschieden sich mehrheitlich für Kanzler Kohls Zusage, "blühende Landschaften" zu schaffen. Beziehungsweise sie beruhigten sich mit Ministerpräsident de Maiziéres Versprechen: "Vielen wird es besser gehen, aber keinem schlechte als vorher".
Demgegenüber erwiesen sich die Wahlversprechen von Bündnis 90, die sich darauf konzentrierten, demokratische Verhältnisse herzustellen, für den Wähler nicht als Zugpferd. Die Parteien der Bürgerbewegungen, die Demokratie, aber keinen raschen Wohlstand versprachen, erhielten nur wenige Prozent der Wählerstimmen. Bündnis 90 weniger als 3 Prozent.
Was der DDR-Bürger sich wünschte, war die Verknüpfung der ostdeutschen sozialen Sicherungen. Besonders die eines Arbeitsplatzes für jeden. Mit dem westdeutschen Lebensstandard. Diese Wunschkombination glaubte er bei der CDU, die immer wieder die Vorteile der sozialen Marktwirtschaft pries, gut aufgehoben.

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