Ouvertüre oder Variante zum Krieg?

Bedeuten die Ereignisse im nordlibanesischen Flüchtlingslager "Nahr el-Bared" den Auftakt zu dem Krieg, den das Land seit Monaten erwartet? Oder wurde mit ihnen eine neue Gangart eingeschlagen?

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Noch vor zwei Wochen saß man, in den Worten des Zeitungskolumnisten Hussam Itani, „im Libanon herum“, in Erwartung des nächsten Krieges. Drei Szenarios kursierten: Krieg zwischen den USA und Iran, Krieg zwischen Israel und Syrien an dessen Grenzen, Ermordung eines libanesischen Politikers aus der ersten Reihe. Eine Konfrontation zwischen der Armee und den Palästinenserlagern im Libanon gehörte nicht dazu.

Die Eskalation, die ein von der islamistischen Fatah al-Islam verübter Banküberfall ausgelöst haben soll, dauert seit dem 20. Mai an, doch über die Hintergründe ist immer noch wenig bekannt. Gesichert scheint nur, dass es sich um eine vorwiegend nicht-palästinensische Gruppierung handelt.

So bestätigte Libanons Verteidigungsminister, Elias al-Murr, gegenüber dem Fernsehsender Al-Arabiyya, dass sich unter den identifizierten getöteten Mitgliedern bislang kein Palästinenser befunden habe, wohl aber Saudis, Jemeniten, Algerier, Marokkaner, Tunesier u.a. (vgl. Weltweiter Export von kampferprobten Islamisten aus dem Irak?) – sowie der Libanese Saddam Al-Hajj Deeb, ein Verdächtiger in Deutschlands so genanntem Kofferbomber-Fall. Ein möglicher Hinweis darauf, dass Fatah al-Islam auch im Ausland Anschläge plant bzw. durchgeführt hat.

Der Artikel, der alles ankündigte?

Gesichert scheint auch, dass es sich um sunnitische Extremisten handelt. Ob dies ausreicht, um eine direkte Linie zu Al-Qaida zu ziehen, ist ebenso unklar wie die alles bewegende Frage nach den finanziellen Hintermännern der Gruppierung, die den USA Anlass zu sofortigen Waffenlieferungen gibt – obgleich anscheinend nur zweihundert Mann stark und bis vor kurzem weitgehend unbekannt.

Während die libanesische Regierung und ihre Anhänger auf Syrien deuten, gilt anderen Seymour Hershs Artikel The Redirection von Anfang März als treffende Antwort. Unter Berufung auf Geheimdienstquellen wird das Trio Fuad Siniora-Regierung, Saudi-Arabien und USA im Zusammenhang mit der Unterstützung von Dschihadisten im Libanon genannt. So habe der ehemalige britische Geheimdienstmitarbeiter Alastaire Crooke erklärt:

Crooke said that one Sunni extremist group, Fatah al-Islam, had splintered from its pro-Syrian parent group, Fatah al-Intifada, in the Nahr al-Bared refugee camp, in northern Lebanon. Its membership at the time was less than two hundred. “I was told that within twenty-four hours they were being offered weapons and money by people presenting themselves as representatives of the Lebanese government’s interests—presumably to take on Hezbollah”, Crooke said.

Dass die Fatah al-Islam nach eigenen Angaben in dem Lager die Scharia einführen und sich dem „Schutz der Sunniten“ verschreiben will, könnte dafür sprechen, dass sie als Waffe gegen die schiitische Hizbollah vorgesehen war oder ist.

Infiltration des Hariri-Clans?

Aussagen über eine direkte finanzielle Unterstützung der „bösen Jungs“, wie sich Crooke gegenüber Hersh auch ausdrückte, durch den Saudi-Arabien nahe stehenden, sunnitischen Hariri-Clan enthält der Artikel nicht.

As'ad Abukhalil, Politikprofessor an der California State University und Betreiber des Blogs Angry Arab, erklärt jedoch, dass der Clan seit der Ermordung von Rafik al-Hariri und dem Abzug der syrischen Truppen in 2005 verstärkt und mit US-Hilfe eine eigene „Quasi-Miliz“ formiert habe, die mittlerweile die mächtigste unter Libanons Sicherheits- und Geheimdienstgruppierungen sei. Für bemerkenswert halte er auch, dass einige Mitglieder der Fatah al-Islam in 2005 aus der Haft entlassen worden seien – dank einer von der Hariri-Familie geforderten Amnestie.

Ibrahim al-Amin, Mitbegründer der der Regierungsopposition nahe stehenden libanesischen Tageszeitung „Al-Akhbar“ verweist zusätzlich darauf, dass der „offizielle“ libanesische Geheimdienst die von Fatah al-Islam ausgehende Bedrohung unterschätzt habe – nicht zuletzt infolge des auf ihn ausgeübten Drucks seitens der USA und Saudi-Arabiens, es mit der sunnitischen Gruppierung nicht zu genau zu nehmen.

Ein „Stellvertreterkrieg“ mit neuen Stellvertretern?

Dass sich die USA nunmehr zu einem harten Durchgreifen entschlossen haben, könnte aus der Einsicht resultieren, das Feuer wieder eindämmen zu müssen (gesetzt den Fall, sie halfen, es zu entfachen).

Abukhalil vermutet hingegen andere Motive: Im Bemühen um eine (kosmetikartige) Absicherung Israels streben die USA eine generelle Entwaffnung von Libanons Palästinenserlagern an. So sei der gegenwärtige Konflikt die Alternative zu einer Neuauflage des Sommerkrieges 2006, an der weder Israel noch die Hizbollah interessiert seien.

Eine These, die zutreffen mag, zugleich aber immer aberwitzigere Implikationen mit sich bringt. Erstens ist Libanons Armee schlecht ausgebildet und könnte auch mit Hightech-Waffen Guerillataktiken nicht beikommen. Die hoch ausgebildete israelische Armee führte dies im vergangenen Sommer vor.

Zweitens könnte sich ihr Scheitern psychologisch fatal auf die nach Identitätsstiftung lechzende libanesische Gesellschaft auswirken, die gegenwärtig dazu neigt, die Armee zu ihrer Heldin hochjubeln. Eine nicht bloß vergängliche, sondern überaus ungesunde Währung. Auch dies machte Israel vor.

Drittens: der ethnische Aspekt. Die diesbezügliche Gemischtheit der Armee bietet riskante Reibungsflächen.

Und schließlich: die Hizbollah. Die erklärte Verfechterin der palästinensischen Sache verlöre ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie sich, im Falle eines auf andere Palästinenserlager übergreifenden Brandes, langfristig aus den Kämpfen heraushielte - und sei es allein, um den Tausenden unschuldiger Zivilisten in den Lagern zu helfen. Zugleich würde sie einen Einsatz ihrer Waffen gegen libanesische Landsleute politisch nicht überleben. Dafür, dass sie es nie tat, genießt sie selbst unter inländischen Kritikern Kredit. Generalsekretär Hassan Nasrallah erinnerte nicht umsonst in seiner jüngsten Rede daran, dass die Hizbollah auch diejenigen, die während der Besatzungszeit mit Israel kollaboriert hatten, nach dem Abzug der israelischen Armee in 2000 geschont habe.

Welche Intentionen sich auch immer hinter den Ereignissen in „Nahr el-Bared“ verbergen – was durchscheint, wirkt ebenso machiavellistisch durchtrieben wie gefährlich dumm.

Das Hariri-Tribunal

Unruhige Zeiten erwarten den Libanon in jedem Fall. Bis zum 10. Juni soll das Parlament über das hochbrisante internationale Untersuchungstribunal zum Attentat auf Rafik al-Hariri abstimmen. Gelingt keine Einigung, wovon auszugehen ist, soll das Tribunal gemäß Kapitel 7 der UN-Charta ohne Votum des Parlaments und nur mit Unterstützung der libanesischen Regierung eingerichtet werden.

Unterdessen verschärfen immer mehr Bombenanschläge, die wie „kleine“, in nicht-schiitischen Regionen platzierte Provokationen wirken, das Klima.