Pakistan: Atommacht wird zum gefährlich "kranken Mann am Indus"

Militär und Geheimdienst ISI auf innenpolitischem Eskalationskurs mit riskanten geopolitischen Dimensionen. Wer kann sie bremsen? Der wichtigste Partner ist China. Die USA kennen die Generäle am besten.

Im April letzten Jahres wurde Imran Khan als erster Premierminister Pakistans durch ein Misstrauensvotum seines Amtes enthoben. Persönlich gekränkt begann er eine Dauerkampagne gegen seine politischen Widersacher und ging auf Konfrontationskurs zur Armee, der wahren Macht im Staat.

Generalität heftig attackiert

Diesen Machtkampf hat er nun, man muss sagen erwartungsgemäß, verloren. Kein Zivilist – niemand – hatte zuvor die Generalität so heftig attackiert, fast täglich ließ er neue Vorwürfe und angebliche Enthüllungen auf die Streitkräfte niederprasseln.

Vermutlich fiel nur wenige Wochen später (solche Details werden nie öffentlich) die Entscheidung, ihn kaltzustellen. Spätestens im März diesen Jahres kamen zivile und militärische Autoritäten unter starken Handlungsdruck, als Parteianhänger Khans mehrere Tage die Verhaftung ihres Vorsitzenden verhinderten und Lahores Stadtteil Zaman Park, wo sich Khans Residenz befindet, im Chaos versank.

Besiegelt war sein Schicksal knapp zwei Monate später, als jener auf dem Gelände des Islamabad High Court verhaftet wurde. Bei landesweiten Protestmärschen griffen seine Anhänger sowohl zivile als auch militärische Objekte an. Dies war eine neue Qualität, bis dahin war es bei verbalen Attacken geblieben.

Gewaltige Reaktion

Diese Herausforderung konnte die Armee unter ihrem neuen Oberbefehlshaber General Asim Munir nicht einfach ignorieren. Khan wurde zwar nach zwei Tagen aus der Haft entlassen, doch gegen seine Partei PTI (Pakistan Tehreek-e Insaf, Bewegung der Gerechtigkeit) gingen militärische und zivile Behörden mit legalen und illegalen Mitteln vor.

Viele Mitglieder wurden willkürlich verhaftet und so lange unter Druck gesetzt, bis sie sich von Khan und der PTI lossagten. Andere verschwanden für Wochen und Monate und waren angeblich in keinem Verlies zu finden. Die Botschaft war deutlich – wer jetzt noch agitiert, verliert mehr als seine Freiheit.

Genauso wurden die Medien eingeschüchtert: Khan blieb in Freiheit, wurde aber fortan totgeschwiegen. Es war bemerkenswert: Das Gesicht, das über Jahre die Politik dominiert hatte, war plötzlich verschwunden.

Auf seinen Social-Media-Accounts blieb Khan aktiv, doch hatte er so nur einen Bruchteil der Reichweite wie über Fernsehen, Radio und Zeitungen. Am 5. August fiel die Axt – im politisch motivierten Prozess um angeblich veruntreute Staatsgeschenke (Toshakhana Fall) wurde er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und einen Tag später verhaftet.

Die Strafe bedeutet automatisch ein Ämterverbot für fünf Jahre. Sollte die PTI – die Partei selbst ist weiterhin legal – bei den kommenden Wahlen (vermutlich Anfang 2024) Mandate gewinnen und an Regierungen beteiligt werden, wird Imran Khan, weiterhin Parteivorsitzender, sehr wahrscheinlich kein Amt ausüben können.

Er wird seine Partei aus dem Gefängnis heraus dirigieren müssen.

Warum macht der populärste Politiker des Landes solche Fehler?

Es wäre falsch, die Schuld für das (vorläufige) Ende der politischen Karriere Khans nur seinen Gegnern zuzuschieben. Selbst während der Amtsenthebung, die sich über Wochen hinzog, blieb Khan der populärste Politiker im Land und das während einer damals schon verschärften Wirtschaftskrise und galoppierenden Inflation.

Er hätte die Beine hochlegen und zuschauen können, wie sich die überforderte neue Regierung unter Shehbaz Sharif vergeblich abstrampelt und fast ein Jahr mit dem IWF um überlebenswichtige Kredite verhandelte.

Pakistan stand (und steht) kurz vor dem Staatsbankrott, die Preise für Grundnahrungsmittel steigen unaufhörlich. Die einzige Maßnahme, die Finanzminister Ishaq Dar zur Sanierung des Haushalts und Finanzierung der Schuldenlast ergreift, sind Steuererhöhungen auf Treibstoff und Strom.

Khan führte in den Meinungsumfragen deutlich und sah wie der sichere Sieger der nächsten Wahlen aus. Seine Disqualifikation und die Zerschlagung der PTI schienen ausgeschlossen. Doch anstatt abzuwarten und die Krise ihr Werk tun zu lassen, goss er Öl ins Feuer und provozierte die Armeeführung bis aufs Blut.

Es war ein Scheitern mit Ansage und es bleibt ein Rätsel, warum seine Berater ihn, der nie ein kühler Stratege war, nicht aufhalten konnten. Im Gegensatz zu Khan hatte die Armee keine Wahl. Rache ist ein Gericht, das man kalt genießen muss, diese Einsicht fehlt Khan bis heute und so verschenkte er einen vermutlich sicheren Sieg.

Pakistans Politiker sind leichte Beute für den Militärgeheimdienst ISI

Doch nicht nur Khan und die PTI wurden seit April 2022 schwer gebeutelt, wahre Gewinner gibt es keine.

Die neue Regierung unter Shehbaz Sharif (PML-N) und Bilawal Bhutto (PPP) war nie populär und musste sich den Vorwurf gefallen lassen, aus reinem Opportunismus mit der Armee, ihrem wahren Gegner, zu paktieren.

Sharifs Bruder Nawaz, selber dreimal Premierminister, wurde 1999 durch einen Militärcoup gestürzt, den er nur dank der Intervention des Königs von Saudi-Arabien überlebte. 2017 veranlassten die Generäle seine lebenslange Suspendierung von allen staatlichen Ämtern.

Bilawal Bhuttos Großvater Zulfiqar wurde 1977 von General Zia-ul Haq gestürzt und zwei Jahre später gehenkt. Sein Vater Asif Ali Zardari saß dank General Musharraf lange im Gefängnis (in Attock, wo nun auch Imran Khan seine Strafe abdient).

Das sollte die demokratischen Kräfte einigen, doch Pakistans Politiker sind leichte Beute für den Militärgeheimdienst ISI (Inter Service Intelligence), der auch die Kunst vollendete, Stämme gegeneinander aufzuhetzen.

Und doch: Tiefe Kratzer an der Politik mit der Angst

Jedoch hat dessen Image, (wenigstens von inneren Feinden) unbesiegbar zu sein, tiefe Kratzer bekommen. Viele Khan-Sympathisanten, darunter zahlreiche Frauen, hatten zeitweise den Respekt, um nicht zu sagen, die Angst verloren. Andererseits legt die Generalität großen Wert darauf, beim Volk als populär zu gelten. Nicht mehr allerdings in PTI-Kreisen.

Der Geheimdienst ISI konnte die Partei nur mit Methoden bändigen, die sonst in den Stammesgebieten von Paschtunen und Balochen angewandt werden. Morde eher weniger, doch es kam zu einer Welle willkürlicher Verhaftungen, Folter und Entführungen.

Im "hybriden System" haben Militär und ISI eindeutig die Oberhand, es besteht wieder eine Militärdiktatur, die nach eigenem Gutdünken die demokratische Fassade wechselt. Auch die anderen Institutionen kamen unter die Räder.

Parlament wurde quasi entmündigt

Wie immer in Krisen greift die Rechtsprechung, zumeist das Supreme Court (Oberste Gericht), häufig und tief in die Politik ein, was angesichts der Verworrenheit, die das Rechtssystem kennzeichnet, nur zu mehr Chaos und Willkür führt. Das Parlament wurde quasi entmündigt.

Ohne Debatte oder Abstimmung peitschte die Regierung kurz vor dessen (halbwegs legitimer) Auflösung am 9. August drastische Verschärfungen der Sicherheitsgesetze durch. Und das, obwohl ISI und die anderen Dienste seit 15 Jahren völlig freie Hand haben.

Die 1973 erlassene Verfassung feiert in diesem Jahr goldenes Jubiläum, doch sie taugt nicht einmal mehr als Feigenblatt. Die Idee des Rechtsstaates ist nicht einmal mehr in Ansätzen zu erkennen.

Die Bevölkerung wendet sich deshalb auch bei geringen Konflikten an die echten "Power Brokers". So werden Dienste selbst in den Zwist unter Nachbarn hineingezogen.

Die größten Verlierer dieser Misere und der end- und ziellosen Machtkämpfe sind damit das Land und seine Bevölkerung. Pakistan wird zum "kranken Mann am Indus".

Die internationale Dimension: Folgen auch für Europa

Verbündete – und Feinde – schauen mit zunehmender Sorge auf das Land. Niemand erwartet eine lupenreine Demokratie, doch Nachbarn, Partner und Gegner wollen Stabilität statt einer in Politik- und Wirtschaftschaos versinkenden Atommacht.

Man kann zu Pakistan stehen, wie man will, allein wegen seiner fast 250 Millionen Einwohnern, der weltweit fünftgrößten Bevölkerung, hat es globale Bedeutung.

Käme es tatsächlich zum Zusammenbruch, hätte dies selbst für Europa Folgen, auch wenn nur Großbritannien engere Beziehungen zu ihm pflegt.