Panorama der Technoevolution

Seite 5: Eine "Relativitätstheorie" der technischen Zivilisation

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Es ist schwer zu sagen, inwieweit die "Summa" eine Wirkung gezeitigt hat. Eine Rezeptionsgeschichte lässt sich kaum ausmachen, was Lem zu seinen Lebzeiten bedauert hat. Vor drei Jahren ist die erste englische Übersetzung herausgekommen, die wohl auf ein gewisses Interesse in den USA gestoßen ist. Vor fünfundzwanzig Jahren wurde das Kapitel zur Phantomatik gelegentlich als Referenz in den ersten Diskussionen um die Virtuelle Realität erwähnt, obwohl das phantomatische Konzept weit über diese hinausgeht.

Das Werk ist entstanden am Schnittpunkt von Technik, Philosophie und Science Fiction, was seine Lektüre nicht einfach macht. Beim Lesen ist man gezwungen, einen Wechsel der Bezugssysteme zu akzeptieren. Auch wenn dieses Vorhaben an manchen Stellen aus heutiger Sicht unbefriedigend bleibt, so beeindruckt die "Summa" nach wie vor durch ihren Anspruch und die Stringenz in der Gestaltung. So kann das Buch seine Entstehungszeit nicht verbergen, es strotzt vor kybernetischem Vokabular. Viele Themen, die seitdem in der Technikdiskussion aufgetaucht sind, sind nicht von Lem vorgedacht worden: große vernetzte Systeme oder Mobilkommunikation beispielsweise.

Das Buch liefert keine Gebrauchsanweisung für das Erfinden zukünftiger Artefakte, sondern stellt eine Aufforderung dar, einen Entwicklungszusammenhang in seinen verschiedenen Dimensionen zu verstehen, dabei über den Tageshorizont hinaus zu denken und die eigene Vorstellungskraft zu trainieren. Lem zieht eine großteilige Denkweise vor, wodurch Themen mit fortlaufender Gültigkeit angesprochen werden. Das Buch erinnert den Leser daran, dass es verschiedene Zeitlichkeiten, verschiedene Bezugssysteme gibt, in denen Gesetze walten, die seine Existenz bestimmen - diese Gesetze sind unterschiedlich angelegt und unterschiedlich beeinfluss- bzw. gestaltbar. Insofern hat er ein Denken auf mehreren Ebenen vorbereitet, ein Denken, das sich langsam allgemein verbreitet. In Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit der irdischen Problemlagen ist eine solche Orientierung - bei allen zeitgebundenen Irrtümern - ein notwendiges Korrektiv zur tagesaktuellen Agenda. Was gegenwärtig strukturell von Bedeutung zu sein scheint, relativiert sich bei größerem zeitlichen und räumlichen Abstand.

Ob Lem nun Konzepte wie Nanotechnologie, Virtuelle Realität oder Artificial Life exakt vorhergesagt hat, bleibt eine Frage der Interpretation (in späteren Werken hat er technische Neuerungen kommentiert, die seit Erscheinen des Buches entstanden sind). Oftmals klingen solche Zuschreibungen in der Öffentlichkeit eher nach einer nachträglichen Versicherung, als dass man in dem Buch etwas wiedererkannt hat, was mittlerweile selbstverständlicher Diskussionsgegenstand ist, ohne sich mit seiner eigentlichen Theorie-Leistung auseinandersetzen zu müssen. Auch nach fünfzig Jahren ist die "Summa" für jeden an Zukunftsthemen Interessierten eine Provokation.

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