Paradigmenwechsel in der Evolutionsbiologie
Seite 2: 2. Autopoiesis als Definition von Lebendigkeit
- Paradigmenwechsel in der Evolutionsbiologie
- 2. Autopoiesis als Definition von Lebendigkeit
- 3. Meilensteine der Evolutionsgeschichte
- 4. Die Radikalität des Perspektivenwechsels
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Der Begriff der Autopoiesis ("Selbsterschaffung") geht auf die Biologen Maturana, Varela und Uribe zurück und stellt einen Versuch dar, zu definieren, was Lebendigkeit ausmacht. Lebende (autopoietische) Systeme sind demnach wie folgt organisiert6:
Die autopoietische Organisation wird als eine Einheit definiert durch ein Netzwerk der Produktion von Bestandteilen, die 1. rekursiv an demselben Netzwerk der Produktion von Bestandteilen mitwirken, das auch diese Bestandteile produziert, und die 2. das Netzwerk der Produktion als eine Einheit in dem Raum verwirklichen, in dem die Bestandteile sich befinden.
Eine Zelle, als Beispiel für ein autopoietisches System, strukturiert demnach mit Hilfe ihrer molekularen Operationen ihre Bestandteile oder Elemente derart (im Sinne ihrer Produktion bzw. Elimination), dass sie der Aufrechterhaltung eben jener molekularen Operationen selbst dienlich sind. Autopoietische Systeme sind also zugleich Produkte und Produzenten ihrer selbst. Sie sind durch ihre eigenen Strukturen determiniert - genetische Strukturen im Falle von Zellen - und bestimmen ihre Grenzen in rekursiver Aufrechterhaltung ihrer eigenen Operationen. Lebende Systeme sind demnach in ihren Operationen geschlossen. Das heißt, Einflüsse aus der Umwelt von autopoietischen Systeme haben keine informative Wirkung, sondern können nur als Irritationen verarbeitet werden. Der Wert dieser Irritationen als Informationen (etwa als "Nährstoff" im Falle von Zellen) wird ausschließlich durch die Strukturen des autopoietischen Systems selbst bestimmt, nicht durch dessen stets unkontrollierte Umwelt.
Es ist unmittelbar einsichtig, dass diese Sichtweise auf das Lebendige mit radikalen Konsequenzen für die Auffassung der Evolution lebender Systeme verbunden ist. Zunächst ist festzuhalten, dass Anpassung nicht als Bedingung von Evolution verstanden werden kann (Darwins Sichtweise), sondern eine ihrer Voraussetzungen ist. Es besteht keine informative, Anpassung leistende Beziehung zwischen lebenden Systemen und ihren Umwelten, sondern lediglich eine irritative. Nur solange autopoietische Systeme angepasst sind - also ihre Operativität rekursiv mittels ihrer eigenen Operationen aufrecht erhalten können - besteht überhaupt nur die Möglichkeit, dass sie sich verändern, dass sie evolvieren können. Anpassung ist demnach als eines der Kriterien für Lebendigkeit zu verstehen, nicht als eine Variable, welche Abstufungen zulassen würde. Lebendigkeit ist in ihrer Organisation gegeben, oder nicht. Unangepasste Systeme können schlicht deshalb nicht evolvieren, weil sie nicht lebendig, nicht existent sind.
Die Definition von autopoietischen Systemen lässt grundsätzlich und abstrakt folgende Möglichkeiten evolutionärer Veränderung zu. Lebende Systeme können sich - dabei fortwährend konstant angepasst - in der Form ihrer Operationen, der Form ihrer Strukturen, bzw. in der Form ihrer Elemente verändern. Basierend auf diesen Rahmenbedingungen lassen sich - ausgehend von der spekulativen Entstehung der ersten zellulären autopoietischen Systeme - die nachfolgend beschriebenen Meilensteine der Evolution unterscheiden. Vorausgesetzt sind also zelluläre, auf der Basis von Molekülen operierende autopoietische Systeme, Bakterien, welche wohl unter spezifischen materiellen Bedingungen ("Ursuppe") entstanden sind.