Paradigmenwechsel in der Evolutionsbiologie

Seite 3: 3. Meilensteine der Evolutionsgeschichte

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Entstehung des Ökosystems

Von einem Ökosystem lässt sich mit dem Aufkommen der Reproduktion der ersten autopoietischen Systeme (Bakterien) sprechen. Dabei ist entscheidend, dass sich durch Reproduktion - bei Bakterien zunächst asexuell durch Zellteilung - nicht lediglich weitere Zellen reproduzierten, sondern auch die Reproduktionsfähigkeit selbst. Schließlich kommt den durch Zellteilung entstandenen Zellen selbst die Fähigkeit zu, sich zu reproduzieren. Als Ökosystem lässt sich also das autopoietische System begreifen, das seine Grenzen durch die Reproduktion seiner eigenen Reproduktivität aufrecht erhält. Von operativer Geschlossenheit ist insofern auszugehen, als die Reproduktion (eigener Reproduktivität) nur innerhalb der Grenzen dieses Systems möglich ist, nicht außerhalb. Als autopoietisches System ist es determiniert durch seine eigenen Strukturen, also Bakterien. Zellteilung führt bei Bakterien gemeinhin zu einer exakten Kopie der Zelle.

Es war eine Änderung in der Form der Operation und der Form der Struktur von lebenden Systemen, die den ersten qualitativ wichtigen Umbruch in der Evolutionsgeschichte ermöglichten. Während Zellen auf der Basis molekularer Operationen in ihren Grenzen fortdauern, wird das Ökosystem auf Basis der Operation der Reproduktion dieser Zellen (Bakterien) in seinen Grenzen aufrecht erhalten. Ohne diesen Schritt wäre es, um Leben zu bewahren, notwendig gewesen, dass sich Bakterien ständig neu aus der "Ursuppe" konstituieren, was Evolution in ihrer Systematik unmöglich gemacht hätte. Bakterien - selbst autopoietische Systeme - sind in Bezug auf das Ökosystem als Strukturen zu verstehen. Also nicht als "individuelle" Organismen, sondern jene Strukturen, welche die Form des (frühen) Ökosystems determinieren und dominieren.

Das Ökosystem muss in Einzahl verstanden werden. Es erhält in seinen Operationen fortlaufend die Unterscheidung zwischen Lebendigkeit - innerhalb seiner Systemgrenzen - und Leblosigkeit in seiner Umwelt aufrecht. Da wir nicht unterschiedliche Formen von Lebendigkeit unterscheiden, ist die Singularität des Ökosystems schlicht ein Korrelat der Definition von Lebendigkeit durch die Form der Organisation autopoietischer Systeme. Leben existiert in autopoietischer Organisation - oder eben nicht.

Welche Möglichkeiten evolutionärer Veränderung gab es im frühen Ökosystem? - Zufällige Mutationen bei der Reproduktion von Zellen oder durch externe Faktoren, wie hochenergetische Strahlung, und die ebenso zufallsbedingte Möglichkeit eines horizontalen Transfers von Genen zwischen den Strukturen (Bakterien), führten und führen zur strukturellen Vielfalt des Ökosystems.7 Diese strukturelle Vielfalt machte und macht das Ökosystem offenkundig in seiner Fortdauer äusserst robust und widerstandsfähig. Es hat seine Lebensfähigkeit und Anpassung - also die Fähigkeit seine Reproduktivität rekursiv zu reproduzieren - seit mittlerweile etwa 3.5 Milliarden Jahren unter Beweis gestellt8:

They [Bakterien, J.R.] reproduce asexually, they have very large populations, and they are able to live under highly variable and often extreme environmental conditions.

Ausdifferenzierung des Ökosystems: Entstehung von Arten und Populationen

Es war wiederum eine Änderung in den reproduktiven Bedingungen des Ökosystems, welche die nächste qualitative Veränderung in der Evolutionsgeschichte ermöglichte. Erst die aus bakteriellem Leben erfolgte mutmaßlich symbiotische Entstehung von Zellen mit Zellkern (Eukaryoten) und Mehrzelligkeit ermöglichte die Form der sexuellen Reproduktion.9 Während die bis dahin übliche Form der Reproduktion durch Zellteilung vorhandene Strukturen lediglich unsystematisch variieren konnte - zufällig und spontan durch Mutation und horizontalen Gentransfer -, konnten Strukturen nunmehr auch auf systematische Weise variiert werden.

Die Möglichkeit der systematischen Variation von Strukturen durch sexuelle Reproduktion hatte vermutlich eine explosionsartige Vielfalt von Strukturen zur Folge10:

The enormous power of the process of genetic recombination by sexual reproduction becomes evident if we remember that in sexually reproducing species no two individuals are genetically identical.

Die Vielfalt der entstandenen Strukturen hatte wohl zur Folge, dass möglich wurde, nicht nur Reproduktionsfähigkeit, sondern auch Reproduktionsunfähigkeit systematisch zu reproduzieren. Gerade dieser Unterschied - der zwischen Reproduktionsfähigkeit und -unfähigkeit - ist es, der zur Entstehung von Arten und Populationen führte. Unterschiedliche Arten und Populationen zeichnen sich durch ihre reproduktive Isolation aus. Indem Arten und Populationen ihre Reproduktivität sexuell reproduzieren, schließen sie sich als Systeme operativ von ihrer Umwelt ab, also mithin auch von anderen, sich ebenso sexuell reproduzierenden Arten und Population.

Das evolutionäre Aufkommen sexueller Reproduktion lässt sich als struktureller Widerspruch verstehen, der eine Systemdifferenzierung des bis anhin bestehenden Ökosystems zur Folge hatte. Zwar wurde Reproduktionsunfähigkeit auch in der damaligen Form des Ökosystems produziert. Dies jedoch nur sporadisch und zufällig, nämlich durch die Möglichkeit der unsystematischen Variierung von Strukturen durch Mutationen und horizontalen Gentransfer. Sie stellte deshalb keine existentielle Bedrohung für das Ökosystem dar, da Reproduktionsunfähigkeit - gewissermaßen verunglückte Mutationen - zwar wohl ausnahmsweise produziert, aber nicht reproduziert werden konnte. Erst die Möglichkeit der systematischen Variation von Strukturen durch die Form der sexuellen Reproduktion führte zur systematischen, sich auch reproduzierenden Reproduktionsunfähigkeit, führt zu reproduktiven Isolationen, also gerade zu jenem Charakteristikum, das Arten und Populationen voneinander unterscheidet. Sexuelle Reproduktion stellte so gesehen ein Problem für das damalige Ökosystem dar, für das Systemdifferenzierung die Lösung ist.

Die Ausdifferenzierung des Ökosystems hatte die Entstehung einer lebhaften "inneren Umwelt" des Ökosystems zur Folge. Das Ökosystem reproduziert die Grenze zur leblosen Umwelt. Hingegen reproduzieren Arten und Populationen zudem systematisch die Grenzen zu anderen Arten und Populationen und damit zu einer Umwelt, die vergleichsweise instabil, wechselhaft, wandlungsfähig - eben lebhaft ist. Damit aber wird Anpassung, also die reproduktive Aufrechterhaltung der Reproduktionsfähigkeit, komplexer und anspruchsvoller.

Unter volatilen, lebhaften, anspruchsvollen Umweltbedingungen wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich systematisch lediglich Extremformen von Strukturen trotzdem reproduzieren können. Dies führt zu einem schnellen Wandel von Arten und Population oder gar, indem im Laufe der Zeit die nichtsdestotrotz reproduzierbaren Strukturen reproduktiv inkompatibel mit der Ausgangsart werden, zur Entstehung von neuen Arten. Dies wiederum verstärkt einmal mehr die Komplexität und Unbeständigkeit der Umwelt von Arten und Population (durch andere Arten und Populationen), was wiederum die Wahrscheinlichkeit der Veränderung und Entstehung von neuen Arten und Populationen erhöht. Die Ausdifferenzierung des Ökosystems zieht also dynamische, sich durch Rückkopplung verstärkende Effekte nach sich. Es ist gerade dieser Effekt, der Phasen beschleunigten Artenwandels ermöglicht, wie etwa die "kambrische Explosion", oder zu "hot spots" erhöhter Biodiversität führt, etwa in Regenwäldern.

Festzuhalten ist, dass es nicht eine (Neu-)Anpassung von individuellen Lebewesen ist, die die Entstehung neuer Arten ermöglicht. Es vielmehr die relative "Unangepasstheit" von Lebewesen - zu verstehen als strukturelle Elemente von Arten und Populationen als autopoietischen Systemen -, also ihre gerade aufgrund von sexueller Reproduktion ermöglichte strukturelle Vielfalt, die eine fortwährende, konstante Anpassung oder Reproduktionsfähigkeit auch unter wechselnden, volatilen, "lebhaften" Umweltbedingungen ermöglicht. Eine Art überlebt nicht deshalb extreme Umweltveränderungen, etwa eine schnelle Änderung von klimatischen Bedingungen, weil sich Lebewesen an diese Bedingungen anpassen, sondern weil es zumindest einigen wenigen Lebewesen dieser Art aufgrund ihre strukturellen Vielfalt möglich ist, sich nichtsdestotrotz zu reproduzieren. Arten sterben dann aus, wenn Umweltveränderungen derart extrem sind, dass diese das Potential der Reproduktionsfähigkeit überschreiten, das Arten schon vor diesen Veränderungen, nämlich durch ihre strukturelle Vielfalt, zukommt.11

Entstehung sozialer Systeme

Mit dem Aufkommen von lautsprachlichen Äußerungen, von Sprache, konnten sich (vor etwa 200.000 Jahren?) autopoietische Systeme basierend auf einer gänzlich neuen Form von Operation entwickeln: Kommunikation. Kommunikation ist als diejenige Operation zu verstehen, welche die Aufrechterhaltung und Reproduktion von sozialen Systemen ermöglicht. Es ist Kommunikation selbst die kommuniziert: Kommunikation setzt Kommunikation voraus, und an Kommunikation kann Kommunikation anschließen. Ebenso wie das Ökosystem und wie Arten und Populationen sind soziale Systeme operativ geschlossen. Sie reproduzieren den Unterschied zwischen sich selbst und ihrer nicht-kommunikativen Umwelt. Wesentliche, soziale Systeme ermöglichende Umwelt stellt eine spezifische biologische Art dar - homo sapiens. Gewissermaßen parasitär in Bezug auf dieser Art - dabei insbesondere deren komplexes Nervensystem in Anspruch nehmend - reproduzieren sich, in kommunikativer Aufrechterhaltung ihrer Kommunikationen, autopoietische Systeme sozialer Art.12

Erst Kommunikation, die Entwicklung von sozialen Systemen machte es möglich und notwendig, Individualität zu konstruieren. Kommunikation funktioniert nur in Referenz auf individuelle (soziale) Adressen, sie nötigt gewissermaßen die Etikettierung von individueller Gegenständlichkeit auf: Gegenstände subjektiven ("Personen"), wie objektiven Typs. Den Erfordernissen der Kommunikation ist zu verdanken, dass uns die Welt - jedenfalls auf den ersten unreflektierten Blick - als ein Sammelsurium von Dingen und Personen erscheint. Ja, sogar die Welt selbst kann sich uns als die Summe ihre Atome darbieten. Auch kommunikative Konstrukte, wie Gesellschaft, Organisationen, Nationen, erscheinen uns durch die Summe ihrer je spezifischen Menschen und Relationen charakterisiert. Arten und Populationen stellen sich als die Summe ihrer individuellen, eigenartigen (allenfalls konkurrierenden) Organismen dar.

Ein genauerer Blick auf die Art und Weise, wie gesellschaftliche Evolution funktioniert, macht allerdings deutlich, dass soziale Systeme nicht durch (die Summe) ihre Menschen strukturiert sein können, sondern durch ihre je spezifischen Handlungserwartungen (etwa Werte, Traditionen, Regeln, Normen, Gesetze).13 Erst so wird verständlich, wie in sozialen Systemen ein offenkundig beobachtbarer extrem schneller gesellschaftlicher Wandel möglich ist. In Deutschland waren es nach dem 2. Weltkrieg nicht Menschen in ihrer physisch-psychischen Disposition welche sich gewissermaßen von heute auf morgen änderten, sondern es waren die sozialen Verhältnisse kennzeichnenden Handlungserwartungen, die einem radikalen Wandel unterzogen wurden. Das gleiche gilt auch etwa für die radikalen Veränderungen der gesellschaftlichen Werte und Normen der DDR, die binnen kürzester Zeit möglich wurden. Grenzwächter etwa, von denen bis anhin erwartet wurde, dass sie Grenzübertritte unter allen Umständen und mit aller Härte verhinderten, wurden nun, gewissermaßen von einem Augenblick auf den anderen, für gerade diese Handlungen bestraft. Soziale Systeme sind also offenkundig nicht durch die Form von "Menschen" strukturiert, sondern durch die Form ihrer Handlungserwartungen.

Gerade deshalb bedarf es bei der Evolution von sozialen Systemen nicht zeitaufwendigen reproduktiven Zyklen, um Strukturen zu verändern - wie dies bei der Evolution des Ökosystems und bei der Evolution von Arten und Populationen der Fall ist -, sondern lediglich der kommunikativen Operation der Negation, um gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.14 Also schlicht Widerspruch, etwa in der Form von Kritik an "überkommenen" gesellschaftlichen Strukturen. So können z.B. Handlungserwartungen betreffend der gesellschaftlichen Stellung von Frauen infrage gestellt, und innert kürzester Zeit verändert werden. So etwa betreffend ihres demokratischen Wahlrechts oder schlicht betreffend ihres Rechts, alleine, unabhängig von Männern Auto fahren zu dürfen (Saudi-Arabien).

Die spezifische Form der Operation sozialer Systeme - Kommunikation - macht die, im Vergleich zu biotischen Systemen rasante gesellschaftliche Evolution verständlich. Diese ist nämlich im Grundsatz in relativer Unabhängigkeit von der physisch-neuronalen Disponiertheit von Menschen - in der Umwelt sozialer Systeme - möglich. Ein Säugling der Steinzeit, gedankenexperimentell sozialisiert in der Moderne, könnte als Person auch heute prinzipiell problemlos funktionieren. Wobei entscheidend ist, dass dieses Funktionieren als Person determiniert wäre durch soziale Strukturen - nämlich die Sozialisation des Säuglings -, nicht durch seine spezifische, physisch-neuronale Disponiertheit als individueller Mensch. In ihrer physischen Disposition als strukturelle Elemente einer spezifischen Art, homo sapiens, sind "Menschen" offenkundig immens langsamer zu modifizieren, als die kommunikativ variierbaren Strukturen von sozialen Systemen. Konstatiert werden muss in diesem Zusammenhang lediglich, dass der neuronalen Ausstattung von Menschen ausreichend "Plastizität" zukommt, um etwa sowohl soziale Strukturen der Steinzeit oder die der Neuzeit zu begünstigen.

Es ist die kommunikative Strukturiertheit sozialer Systeme, die den beobachtbaren fulminanten sozialen Wandel verständlich macht. Dieser lässt sich etwa am rapiden Zuwachs von Fortbewegungsmöglichkeiten von Personen verdeutlichen. Innert wenigen 10 Tausenden von Jahren, einem Wimpernschlag in den zeitlichen Dimensionen biotischer Evolution, war es möglich, den Spielraum der Fortbewegung von Personen um den Faktor 3000 zu vergrößern. Dies entsprechend der Tagesdistanz eines Raketenflugs zum Mond, im Vergleich zu derjenigen, die zu Fuß möglich ist.

Mit dem Aufkommen von sozialen Systemen erlangte Evolution das Potential für (Selbst-)Reflexivität. Durch soziale Systeme wurde evolutionär möglich, dass Evolution ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen erkennt. Die Konstruktion von Theorien über Evolution ist eine Errungenschaft, die in sozialer, nicht in biotischer Evolution vorkommt. Erst diese Selbstorientierung oder Selbstreferenzierung der Theoriekonstruktion (innerhalb der Theoriekonstruktion) macht möglich - nämlich, indem zwischen sozialer und biotischer Evolution unterschieden wird15 -, anthropozentrische Fehlschlüsse bei der Konstruktion von Evolutionstheorien zu vermeiden. Es kann verhindert werden, dass spezifischen Geschehnissen sozialer Evolution, etwa Darwins "künstliche Zuchtwahl", irriger Weise die Eigenheit zugesprochen wird, Evolution gemeinhin zu charakterisieren.