Paradigmenwechsel in der Evolutionsbiologie

Seite 4: 4. Die Radikalität des Perspektivenwechsels

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Es ist offensichtlich, dass die entwickelte Perspektive nicht als Erweiterung oder Ergänzung der Theorie Darwins verstanden werden kann. Sie ist eine radikale Abkehr von Darwins Sicht. Dies zeigt schon die fundamental unterschiedliche theoretische Stellung des Konzepts der Anpassung - bei Darwin Bedingung, hier Voraussetzung von Evolution. Entscheidend für die Entstehung von Arten und Populationen sind deshalb vorliegend systeminterne Modifikationen, das Aufkommen von sexueller Reproduktion im Ökosystem. Bei Darwin sind es systemexterne Bedingungen, Veränderungen der Umwelt von Lebewesen, die die Entstehung von Arten ermöglichen.

Darwins Irrweg ist durchaus nachzuvollziehen. Kommunikation selbst plausibilisiert auf den ersten Blick den Bezug auf individuelle Gegenständlichkeit, bei Darwin also die Bezugnahme auf die Individualität von Organismen. Die Evidenz von Beobachtungen - etwa, dass individuelle Vögel einer spezifischen Art in ihrer Schnabelform perfekt an ihre Nahrungsquelle angepasst sind - garantiert allerdings noch nicht den Wahrheitsgehalt von Theorien, die darauf aufbauen.

Auch die Perspektive Newtons in der Physik genießt mehr unmittelbare Plausibilität, als diejenige Einsteins. Konzepte, wie "Raumkrümmung" oder "Zeitdilatation", sind zunächst theoretische Abstraktionen, die sich nicht unmittelbar beobachten lassen. Gleiches gilt in vorliegender Perspektive für die Abstraktion, Organismen als "strukturelle Elemente" von autopoietischen Systemen (Ökosystem, Arten und Populationen) aufzufassen. Diese Abstraktion ermöglicht, zu sehen, dass Darwin bei seinen Beobachtungen einen Kategorienfehler begangen hat. Zwar ist Anpassung als entscheidende Voraussetzung von Evolution zu verstehen - dies aber nicht in Bezug auf individuelle Organismen, sondern in Referenz auf Arten, Populationen und das Ökosystem.

Die Anpassung von individuellen Organismen ist eine relative. Es ist die Strukturvielfalt von autopoietischen Systemen - also die relative "Unangepasstheit" von individuellen Organismen - welche die Anpassung von Arten und Populationen auch unter wechselnden, unvorhersehbaren Umweltbedingungen ermöglicht. Erst wenn das Potential, Angepasstheit zu gewährleisten - also Reproduktivität zu reproduzieren -, welches sich aus der strukturellen Vielfalt von autopoietischen Systemen ergibt, durch extreme Umweltveränderungen überschritten wird, kommt es zum Aussterben, etwa von Arten. Genau dies ist im derzeitig zu beobachtenden Massenaussterben von Populationen und Arten der Fall. Umweltbedingungen haben sich - in der Form von sozialen Systemen - derart radikal geändert, dass es vielen Arten und Populationen nicht mehr möglich ist, ihre Reproduktivität zu reproduzieren.

Aktuell ist es vor allem die Forschungsrichtung der Epigenetik, bzw. die evolutionäre Entwicklungsbiologie, die die "Moderne Synthese" in Frage stellt. Diese würde die "epigenetisch" zu beobachtende strukturelle Vielfalt und Plastizität von Lebewesen unberücksichtigt lassen.16 Allerdings bleibt auch bei dieser Kritik der Fokus auf der Individualität von Organismen, der letztlich Darwins Konzept einer "natürlichen Selektion" fundiert, unangetastet. Deshalb stellt diese Kritik die "Moderne Synthesis" nicht grundsätzlich in Frage. Ihr geht es lediglich um eine "Erweiterung" konventioneller Evolutionstheorie.

In vorliegender Perspektive lässt sich sehr genau bestimmen, wie sich das Forschungsfeld der Genetik von demjenigen der Epigenetik abgrenzen lässt. Der Unterschied liegt in der Referenz auf unterschiedliche autopoietische Systeme. Während sich die Genetik mit den strukturellen Elementen (dem Genom) von individuellen Zellen befasst, befasst sich die Epigenetik mit individuellen Organismen (multizellularen Systemen) als strukturellen Elementen von Arten und Populationen. Auch die Möglichkeit des horizontalen Gentransfers, die im Ökosystem unter Prokaryoten zu beobachten ist, fällt in das Forschungsfeld der Epigenetik.

In hier entwickelter Sicht ist das Konzept der "künstlichen" (bzw. "natürlichen") Selektion oder Zuchtwahl, welches aus den Verhältnissen sozialer Evolution abgeleitet ist, unsinnig. Anpassung wird in Referenz auf Arten und Populationen geleistet, deren Reproduktivität ist es, welche mittels deren Strukturen (Organismen) reproduziert wird. Ein relativer Vorteil auf der Ebene der Strukturen (Reproduktionsraten betreffend) muss nicht unbedingt einen ("selektiven") Vorteil auf der Ebene dieser Systeme bedeuten. Aktuell niedrige Reproduktionsraten könnten in der Zukunft, unter anderen Umweltbedingungen, vorteilhaft sein, zu höheren Reproduktionsraten führen. Selbst Reproduktionsraten von Strukturen, die nahe Null liegen - gewissermaßen das Todesurteil, eine Art "Anti-Selektion" aus der Sicht Darwins - können auf der Ebene der Anpassung einer Art vorteilhaft sein, etwa angesichts des zeitweisen Mangels an Umweltressourcen.

Die in konventioneller Evolutionstheorie oft gestellte Frage, welche Einheiten in der Evolution selektiert werden (etwa: Gene? individuelle Organismen? Gruppen von Organismen?), stellt sich demnach als Scheinproblem dar. Dies schlicht deshalb, weil Evolution abseits sozialer Evolution nichts "auswählt". Die reproduktive Aufrechterhaltung von autopoietischen Systemen wird durch deren strukturelle Vielfalt geleistet und nicht verzerrt durch ein "vorteilhaftes", Reproduktionsraten erhöhendes Kriterium, welches lediglich spezifische, "ausgewählte" Strukturen begünstigen und aufrechterhalten würde, wie dies in sozialer Evolution, etwa bei der Züchtung von Hunderassen der Fall sein kann. Die Frage nach den Einheiten, welche selektiert werden, stellt sich als "Rätsel" im Sinne Kuhns dar, als Problem, welches nicht gelöst werden kann, sondern die Notwendigkeit eines paradigmatischen Perspektivenwechsels anzeigt.17

Ein "Rätsel" in diesem Sinne stellt auch das Aufkommen von sexueller Reproduktion dar. In konventioneller Evolutionstheorie scheint diese Neuerung ein Problem zu sein, weil diese - dann als Eigenschaft gesehen, die individuellen Organismen zukommt - offenkundig keinen Vorteil für das individuelle "egoistische Gen" bietet, sich also eigentlich gar nicht hätte evolutionär stabilisieren können ("paradox of sex", "two-fold cost of sex"). Es bedarf deshalb einiger theoretischer Klimmzüge, um das Auftreten dieser Form der Reproduktion - offenkundig nichtsdestotrotz - erklären zu können.

Falsch ist aus vorliegender Perspektive schon, von der Prämisse einer "Individualität" auszugehen, welche sich dann, gemessen am Maßstab ihrer Aufrechterhaltung, im Zuge evolutionären Geschehens "vorteilhafte" Eigenschaften (wie Sexualität) aneignen könnte. Das Konzept der "Individualität" ist eines, welches sich in sozialer Evolution entwickeln konnte, also der Entwicklung sexueller Reproduktion zeitlich nachgeordnet ist. Insofern stellt sich schon die Frage als unsinnig dar. Unsinnig ist in diesem Zusammenhang auch das Konzept des Wettbewerbs, welches in konventioneller Sicht die Beziehung zwischen "Individuen" dominieren soll. Dies deshalb, weil es in der Evolution nicht um die Aufrechterhaltung spezifischer, im Konkurrenzkampf bewährter Strukturen geht, sondern es, wie erwähnt, strukturelle Vielfalt ist, gewissermaßen epigenetische Plastizität, die es aufrecht zu erhalten gilt, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, die Reproduktion der Reproduktivität autopoietischer Systeme auch unter sich ändernden Umweltbedingungen zu leisten.

Genauso wenig, wie plausibel ist, dass genetische Strukturen in Bezug auf Zellen als autopoietische Systeme konkurrieren, ist dies in Bezug auf individuelle Organismen als strukturierende Elemente von Arten und Populationen der Fall. Konzepte, wie etwa "Wettbewerb", "Individualität", "Zuchtwahl", "Selektion" sind als Artefakte oder Konstruktionen sozialer Evolution zu verstehen, nicht als Mechanismen, die für Evolution gemeinhin von Relevanz sind.