Parlamentarier sind Vertreter der Parteifunktionäre

Seite 3: Die politischen Parteien habe keine Bindekraft mehr

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Alle Parteien umwerben die politische Mitte und verzichten auf klare Programmatik. Die Beliebigkeit löst Loyalitäten und Machtgefüge auf. Die tragenden Klassen der Vergangenheit - Arbeiter, Bauern, Bürger - sind dahingeschmolzen und haben an ökonomischer oder kultureller Bedeutung verloren. Sie haben sich gewissermaßen in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft aufgelöst.

Als soziokulturelle Einheiten fungieren Parteien schon längst nicht mehr, und selbst ihre politische Bindekraft hat nachgelassen. In den großen Parteien hat jeweils mehr als ein Drittel der Mitglieder schon mal eine andere Partei gewählt. Der Parteienwettbewerb hat sich substanziell entpolitisiert. In ihnen ringen nicht mehr soziale Lebenswelten mit unterschiedlichen Entwürfen für eine gute Politik und Gesellschaft.

Parteien dieses Typs bezeichnete der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer schon 1965 als "catchall parties"6. "Die Umwandlung zu Allerweltsparteien ist ein Phänomen des Wettbewerbs. Eine Partei neigt dazu, sich dem erfolgreichen Stil ihres Kontrahenten anzupassen, weil sie hofft, am Tag der Wahl gut abzuschneiden, oder weil sie befürchtet, Wähler zu verlieren."7

Um die Mehrheit der Wähler zu erreichen, unterhalten die Allerweltsparteien Verbindungen zu verschiedenen Interessenverbänden, die ihnen ein ,,Massenreservoir leicht zugänglicher Wähler bieten"8. Diese Verbindung ist deshalb notwendig, weil die Wählerschaft in einem Allerweltsparteiensystem keine langfristigen Parteibindungen hat und angesichts der bis auf Details und Äußerlichkeiten gleichen Parteiprogramme politisch desillusioniert ist. Die Wähler und Wählerinnen haben "bei der Wahl keine Wahl" und verhalten sich apathisch. Somit wird auch das Wahlergebnis beliebig, die entscheidenden Faktoren "stehen oft in keiner Beziehung zur Leistung der Partei"9.

Allerweltsparteien bluten nach und nach aus

Der Heidelberger Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt beschreibt die Allerweltsparteien so: Sie bieten keinen Schutz für gesellschaftliche Positionen, sie fungieren nicht mehr als Anlegeplatz für eine intellektuelle Ambition; ihnen fehlt ein Bild von der Zukunft. Sie bluten normativ allmählich aus - und gefährden dadurch ihren eigenen Bestand. Den Parteimitgliedern mangelt es an ideellen Motivationen für ehrenamtliche Aktivitäten; den Parteianführern fehlen die Maßstäbe und Leitsterne für ihr politisches Handeln.

Noch bis in die 1960er Jahre hinein gingen begabte junge Leute in die politischen Parteien, später in die sozialen Bewegungen. Seit den 1980er Jahren ist Parteipolitik immer uninteressanter geworden. Viele junge Menschen interessieren sich noch für Politik, schrecken aber vor dem Gekungel in den Hinterzimmern der Politik zurück. Doch den politischen Parteien scheint das egal zu sein. Sie füllen auch dann noch die Parlamente, wenn nur wenige Bürger überhaupt noch zur Wahl gehen.

Übrigens auch dies ein Zeichen für die selbstzerstörerische Eigendynamik in entwickelten Demokratien. Im Streben, für möglichst viele Wähler attraktiv zu sein, mutieren die alten Weltanschauungsparteien von einst zu Allerweltsparteien und verlieren dadurch ihr klares Profil und mit ihm nach und nach auch ihre Wähler.

Man könnte von politischer Selbstauszehrung sprechen. Während die CDU/CSU in den 1950er Jahren meist rund um 50 Prozent der Stimmen bekam und die SPD meist rund um 40 Prozent, sind beide "großen" Parteien in diesem Jahrhundert zu Miniaturen ihrer selbst geschrumpft: Die CDU/CSU liegt meist bei etwas über 30 und die SPD meist bei etwas über 20 Prozent. Die entwickelte Demokratie frisst auch ihre eigenen Parteien.

Der Abschied von Kernüberzeugungen hat die Parteien keineswegs freier gemacht. Er hat ihnen eher die Orientierungssicherheit genommen, hat Loyalitäten reduziert, ihre Stabilität beeinträchtigt. Die überzeugungs- und lagerlosen Parteien sind abhängiger nach außen geworden: von den Einflüsterungen und Kurzatmigkeiten der Demoskopen, von den Konjunkturen der politischen Leitartikel, von den Launen einer hybriden Kundenmentalität. … Denn Allerweltspolitik schleift die autonomen Maßstäbe und unzweideutigen Wertvorstellungen, die dafür nötig sind.

So sind Allerweltsparteien stets Agenten der obwaltenden Entwicklungsprozesse beziehungsweise der herrschenden Deutungen davon. Und so erscheinen ihnen gegenüber stets solche Parteien ungleich dynamischer und forscher, die ihre Anhänger mit scharfen und eindeutigen Parolen in Stimmung bringen, die den eigensinnigen Zerschnitt des gordischen Knotens zum Programm machen. Die Allerweltspartei und der neue Populismus bedingen einander.

Im Zuge dieser Dialektik verlieren oft gerade Allerweltsparteien ihren Charakter als Groß- und Volkspartei. Denn sie verlieren an innerer Kraft, die aber unverzichtbar ist, um nach außen anziehend zu wirken, um kluge und ehrgeizige Mitglieder zu gewinnen, auch um Kraft- und Führungsnaturen zu rekrutieren.

Franz Walter

Die meisten Mitglieder suchen in und durch Parteien berufliches Fortkommen. Die Parteien bestimmen über die Besetzung zahlreicher, auch außerstaatlicher Führungspositionen. Radio- und Fernsehanstalten, Energieunternehmen, der öffentliche Geld- und Kreditsektor, ein Großteil der Verkehrsbetriebe, Behörden, Ämter und Ministerien sind auch "Versorgungsunternehmen für Parteigänger und -mitglieder"10. Das trägt zusätzlich zur ideologischen Indifferenz bei. Versorgungsdenken und der daraus folgende politische Opportunismus relativieren politische Bekenntnisse und die Verantwortung für das Ganze.

Für die Ochsentour ist Qualifikation nicht gefragt

Entkräftete und ermattete Allerweltsparteien sind am Ende dieses ganzen Auszehrungsprozesses Mitte eigentlich nur durch ihre semantischen Ansprüche, nicht durch ihre wirkliche Erdung und Repräsentanz in den elementaren Lebensbereichen der Gesellschaft. Infolgedessen reagiert die Gesellschaft auch zunehmend gleichgültig auf die übervorsichtigen, politisch entleerten Allerweltsparteien, ärgert sich einzig über die immensen Kosten, die dafür gleichwohl aufzuwenden sind, empört sich zuweilen über Verfilzung, Kartellisierung, gar Korruption.

Franz Walter

Alles in allem: Die Ochsentour durch die Partei und den Wahlkampf verlangt von einem Kandidaten keinerlei Fertigkeiten, die ihn für ein politisches Amt und das Tragen von Verantwortung sehr qualifizieren - außer vielleicht einer gewissen Beredsamkeit und der Fähigkeit, in politischen Auseinandersetzungen zu finassieren und zu intrigieren.

Ein fast schon tragikomisches Beispiel dafür, dass die Fertigkeiten, die einen überragenden Wahlsieg überhaupt erst möglich machen, aber nicht für das anschließende Tragen von Verantwortung qualifizieren, ist die Rolle des FDP-Politikers Guido Westerwelle vor und nach der Bundestagswahl 2009. Mit brillanter, wenn auch knüppeldick aufgetragener Rhetorik gelang es ihm, für die FDP einen der größten Wahlsiege in ihrer Geschichte zu erringen. Und mit derselben bombastischen Rhetorik, hat er ihn nach der Wahl binnen kürzester Zeit wieder verspielt.

Am Ende wurde ihm und der FDP genau jene Fertigkeit zum Verhängnis, die ihn zum höchsten Erfolg geführt hatte. Und das ist das Charakteristikum der allgemeinen politischen Konstellation. Um in politische Ämter zu gelangen, braucht man Fertigkeiten, die einen Kandidaten für eine Reihe von Dingen qualifizieren mögen: auf jeden Fall nicht zum Führen eines politischen Amts und schon gar nicht für das Tragen ernsthafter Verantwortung.

Das erklärt, warum so viele Politiker in ihren neuen Ämtern so lange und so hilflos herumhampeln. Sie müssen erst lernen, was sie angeblich schon längst so gut beherrschen.

Damit da kein Missverständnis entsteht: Ich behaupte nicht, dass alle Abgeordneten geschwätzige Luschen sind - obwohl es viele gibt, auf die auch das zutrifft. Es geht darum, dass die in der repräsentativen Demokratie geltenden Rekrutierungsmethoden so gut wie keine Qualifikation erfordern außer Zettelchen verteilen, Versammlungen leiten, Plakate kleben, Reden halten und ein bisschen herumzuintrigieren.

Natürlich können dennoch häufig Hochqualifizierte durch die Ochsentour rekrutiert werden. Aber nicht wegen der Rekrutierungsanforderungen, sondern trotzdem.

Selbst in absoluten Monarchien war das anders. Der Adel wurde ein Leben lang dafür ausgebildet, Führungsaufgaben und Verantwortung wahrzunehmen. Das System war darauf ausgerichtet, ausgebildete Verantwortungsträger zu generieren. Das ist dennoch oft genug auch völlig schief gegangen.

Entscheidend aber ist: Das System war darauf ausgerichtet. Das System der repräsentativen Demokratie ist es nicht, und das ist seine Crux, genauer gesagt: Das ist einer der vielen Gründe, warum die Kluft zwischen der Bevölkerung und ihren Politikern immer größer wird.

Teil 5: Eine Form der milden Funktionärsdiktatur.

Die 5. Folge zeigt, wie die staatlich finanzierten politischen Parteien alle Spuren von demokratischer Spontaneität und Selbstorganisation im Keim ersticken. Wenn den Parteien die Mitglieder in Scharen davonlaufen, so macht das gar nichts. Dann greifen die Parteien halt den Steuerzahlern noch etwas tiefer in die Taschen und lassen sie ihre Organisationen bezahlen.

Die politischen Parteien könnten keine zwei Tage überleben, entzöge man ihnen die staatliche Unterstützung, mit der sie sich selbst künstlich am Leben erhalten. Sie sind so gut wie vollständig staatsfinanziert. Sie haben den Staat usurpiert und nähren sich prächtig von den Tributzahlungen der Steuerzahler. Staatsparteien und staatlich finanzierte Mandatsträger sind meilenweit von allem entfernt, was in den Gründerjahren einmal einen durchaus demokratischen Anfang genommen hat.