Pekinger Konsens

Seit Februar ist der Chinese Justin Yifu Lin Chefökonom der Weltbank - seine Biographie trägt Züge eines Abenteuerromans

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Geboren wurde Justin Yifu Lin 1952 als Zhengyi Lin in Taiwan - drei Jahre, nachdem der chinesische Bürgerkrieg durch die Überlassung der Insel als Zuflucht für die antikommunistischen Anhänger Chiang Kai-sheks beendet worden war. Ende der 1960er Jahre, als in den meisten Ländern der westlichen Welt Studenten revoltierten, wurde Lin als Student der Agrarwissenschaften Vorsitzender der Nationalen Studentenvereinigung an der NTU. Später wechselte er an die Militärakademie, wo er 1975 an der Infanterieabteilung ab- und ein dreijähriges MBA-Studium anschloss.

Am. 16. Mai 1979, kurz nach seiner Stationierung auf der Kinmen-Inselgruppe, schwamm er ohne Vorankündigung auf eine festlandschinesische Nachbarinsel und lief zum "Feind" über. Dort änderte er seinen Namen in Yifu – angeblich eine Anspielung auf ein Konfuzius-Zitat – und studierte Politische Ökonomie an der Universität von Peking.

Justin Yifu Lin. Foto: Chinese University of Hong Kong

Zur Promotion wechselte er an die University of Chicago, wo die unter anderem von Milton Friedman mitbegründete "Chicago School of Economics " damals die Lehre der staatlichen Zurückhaltung in einer religiös-dogmatischen Form predigten, wie sie später als "Washington Consensus" von der Weltbank in vielen Ländern durchgesetzt werden sollte. Seine 1986 bei Theodore William Schultz eingereichte Doktorarbeit schrieb er über die "Reform der chinesischen Dörfer" unter Deng Xiaoping. Als er im Jahr darauf nach China zurückkehrte, machte er schnell Karriere und gründete 1994 das China Center für Economic Research an der Universität von Peking, das zum wichtigsten Think Tank der chinesischen Regierung wurde. Viele seiner Theorien fanden direkten Niederschlag in ihrer Wirtschaftspolitik – unter anderem wird die Kampagne "Aufbau der neuen sozialistischen Dörfer" gänzlich Lin zugeschrieben.

Seine Berufung zum Chefökonomen der Weltbank dürfte maßgeblich von zwei Faktoren bestimmt gewesen sein: Zum einen davon, dass China mittlerweile über Währungsreserven von mehr als 1500 Milliarden Dollar verfügt, die Institution mitfinanziert und offenbar auch personell auf entsprechenden Einfluss pocht. Der andere Grund liegt im zur offensichtlich gewordenen Scheitern des "Washington Consensus": Der Niedergang dieser von PR-Strategen als "Konsens" verkleideten Doktrin begann bereits in den 1990ern. Schon damals ließ sich die negative Rolle, welche die Weltbank in der wirtschaftlichen Entwicklung vieler Ländern spielte, kaum mehr leugnen. Doch anstatt das Versagen einzugestehen und die Rezepte zu ändern, kündigte man lieber dem damaligen Chefökonomen Joseph Stiglitz, der die Probleme beim Namen genannt hatte.

Mit Lin holte sich die Institution dagegen wieder ein Stück Kritik ihrer alten Politik ins Haus. Die allerdings ist im Vergleich zu der von Stiglitz relativ zurückhaltend. In der Zeit gestand der chinesische Ökonom (der sich auf die Frage, ob er nun "Marktwirtschaftler oder Marxist" sei, als eine "Kombination" aus Beidem bezeichnete) ein, "dass der Washingtoner Konsens […] nur in einer idealen Welt funktioniert." Laut Ansicht des Schultz-Schülers "hat die Weltbank ihrer früheren Positionen an einigen wenigen Grundüberzeugungen ausgerichtet" – doch jetzt verstünden "auch in Washington immer mehr Menschen, dass ein diagnostischer Ansatz nötig [sei]": "Der Markt hat in einer idealen Welt ohne Verzerrungen die besseren Lösungen. In der Realität gibt es aber eine ganze Reihe von Verzerrungen, vor allem in Entwicklungsländern […] Bevor wir auf die Einführung der Marktwirtschaft drängen, müssen wir diese Dinge verstehen."

In neueren wirtschaftspolitischen Fragen scheint Lin dagegen wenig vom Kult der absoluten Heiligung von Immaterialgütermonopolrechten (vulgo: "Geistiges Eigentum") abzuweichen, der bei der Weltbank mittlerweile den Platz einnimmt, den der "Washington Consensus" früher innehatte. Andererseits: Wer weiß, was jemand, den es als nationalchinesischen Elitesoldaten nach Rotchina und von dort aus an die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät University of Chicago zog, in der Zukunft noch für Beweglichkeiten auf Lager hat.