Pestizide: Unverzichtbar für die moderne Landwirtschaft?

Pestizide stehen in der Kritik, doch sie werden oft genutzt. Sind sie für Erträge essenziell? Ein Blick auf Fakten und Alternativen.

Die Wut der Bauern in Europa hat inzwischen eine solche Wucht erreicht, dass es die EU-Kommission inzwischen ganz offensichtlich mit der Angst zu tun bekommt und alle Ambitionen für mehr Umweltschutz über den Haufen wirft. Aktuelle Ertragssteigerungen scheinen wichtiger als Zukunftssicherung. Dass sie damit auch viele ihrer Mitgliedsstaaten verstört, scheint sie bewusst in Kauf zu nehmen.

Wenn Äpfel nur mit Pestiziden schön werden

Der Vinschgau im Westen Südtirols ist das größte zusammenhängende Apfelanbaugebiet in Europa. Mehr als 7.000 Apfelbauern produzieren zehn Prozent aller europäischen Äpfel. Der Großteil der Südtiroler Ernte wird nach Deutschland exportiert.

Zur Bekämpfung von Schädlingen wie dem Apfelwickler und Pilzkrankheiten greifen sie primär auf synthetische Pestizide zurück, die sie mit Gebläsen verteilen und das bis zu 50 Mal pro Saison.

Was 2017 mit einer Klage von circa 1.400 Obstbauern und dem Landesrat für Landwirtschaft gegen Umweltaktivisten wegen übler Nachrede, führte dann im weiteren juristischen Ablauf zu einem Einblick in Spritztagebücher von Vinschgauer Apfelbauern.

In 681 dieser Betriebshefte aus dem Jahr 2017 sind 590.000 Pestizideinsätze in nur einer Saison dokumentiert.

Bauern im Vinschgau bis zu neun verschiedene Mittel an nur einem Tag gespritzt. Auch wenn die Mengen je Pestizid unter den zulässigen Grenzwerten bliebe, gibt es keine tragfähige Folgenabschätzung für die Pestizid-Cocktails. Diese können sowohl für die Anwender selbst, als auch für Anrainer gesundheitsgefährdend sein.

Weil die Bauern aber ihre Anzeigen aus dem Jahr 2017 zurückziehen, wird über die Sache selbst nie verhandelt und der Prozess im Mai 2022 eingestellt.

Inzwischen hat sich gezeigt, dass sich die Pestizide weit über das Apfelanbaugebiet hinaus verbreiten.

Wie Pestizide die Biodiversität bedrohen: Ein Blick hinter die Kulissen

Als Folge der Industrialisierung der Landwirtschaft wird das Ackerland immer intensiver genutzt. Was dabei stört, wird weggespritzt. Dass das auf Dauer keine sinnvollen Maßnahmen sind, ist in der Mehrzahl der EU-Mitgliedsländer inzwischen anerkannt.

Die EU-Kommission setzt aufgrund der Bauernproteste trotz Uneinigkeit unter den Mitgliedstaaten Zugeständnisse an die Landwirte durch. Man entschied im Alleingang über eine Ausnahme von Vorschriften für einen Mindestanteil an Brachland auf Ackerflächen, wie aus eine Veröffentlichung im EU-Amtsblatt hervorgeht.

Die Regelung soll durch eine Mindestvorgabe für den Anbau von Zwischenfrüchten ersetzt werden. Die neue Vorgabe ist niedriger, als von Mitgliedstaaten wie Deutschland gefordert.

Als Brachland-Alternative wurden dann stickstoffbindende Pflanzen auf einen Mindestanteil von sieben Prozent vorgeschlagen, was für zahlreiche Landwirte jedoch als Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Handlungsfreiheit abgelehnt wurde.

Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Kommission dann die ursprünglich vorgesehene Regelung, um die Lebensmittelversorgung in der EU abzusichern. Obwohl sich diese Begründung faktisch nicht aufrechterhalten ließ, kommt man den Bauern bei ihren Wünschen nach aktueller Ertragssteigerung weiter entgegen, auch wenn dies schon bald zu Ertragsminderungen führen dürfte.

Nur mit umfangreichem Pestizideinsatz scheint industrielle Landwirtschaft möglich

Ebenfalls zur Steigerung ihres Ertrags bestehen viele Landwirte auf einem uneingeschränkten Pestizideinsatz. Geplant hatte die EU-Kommission allerdings, den Pestizideinsatz bis 2030 zu halbieren.

Aufgrund der länderübergreifenden Bauernproteste will Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, die von den Bauern abgelehnte Verordnung allerdings zurücknehmen. Landwirtschaft schlägt Umweltschutz.

Von der Leyens Entscheidung bedeutet, dass die Richtlinie der Kommission aus dem Jahr 2009 über die nachhaltige Verwendung von Pestiziden auf absehbare Zeit in Kraft bleiben wird. Diese Entscheidung steht im Einklang mit der Entscheidung, Glyphosat in der EU weiter zuzulassen.

Von der Leyen schlägt jetzt vor, dass die Kommission nach den wochenlangen Protesten von Landwirten, die mit den EU-Umweltvorschriften unzufrieden sind, nun einen strategischen Dialog mit den Interessenvertretern der Agrar- und Lebensmittelindustrie aufnimmt. Man glaubt in der Kommission offensichtlich mithilfe der einschlägigen Industrie die Bauern ruhig stellen zu können.

Letztlich knickt Brüssel jedoch vor der Agrochemie-Industrie ein und behindert eine gesündere, zukunftsfähige Landwirtschaft.

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