Philosophie des Geistes und der Geister?

Von weißen Nebeln und fehlenden Büchern - Teil II

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dass auch der aufgeklärteste Geistesgeschichtler bei bestimmten Geistergeschichten Gänsehaut bekommt, ist bekannt, der Grund dafür aber nach wie vor ein Rätsel, das weder Philosophen noch Anthropologen oder Psychologen lösen konnten.

Teil 1: Geister

Letztere sprechen dann von Suggestion, Psychose, Wahnvorstellung oder akut werdendem Therapiebedarf - aber sie sparen aus, dass zum Beispiel der Rohrschach-Test (ein bis heute gebräuchlicher psychologischer Assoziationstest, bei dem der Patient Tintenkleckse auf einem zusammengeklappten Stück Papier zu interpretieren hat, auf dass er dergestalt unwillkürlich die Urgründe seines Unbewussten preisgebe) ursprünglich mehr ein Test zum Nachweis von Gespenstern war.

Und um nun wieder auf die Philosophie zu sprechen zu kommen: Deren Vertreter diskutieren seit dem Verdunsten des Glaubens und der Absetzung Gottes über die "Philosophie des Geistes": Lassen sich geistige Phänomene aller Art mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild überhaupt vereinbaren oder gar in Einklang bringen? Denn erstens können nur naturwissenschaftlich erfassbare Dinge - im Fachjargon - "kausal wirksam" sein, also etwas bewirken, zweitens sind gerade geistige Dinge naturwissenschaftlich nicht erfassbar, aber drittens sind trotzdem geistige Dinge auch kausal wirksam - und zwar nicht nur in Form von hochgeistigen Getränken.

Viele Jahre bestimmten sich zahllose Philosophen nur darüber, welche dieser drei Aussagen sie zuerst aus der Liste strichen. Doch der argumentativen Aussichtslosigkeit müde lassen sich die Denker derzeit zunehmend auf einen analytischen Schuldenschnitt ein, der zwar die Existenz geistiger Entitäten erlaubt, aber nur, wenn diese Arten von "Seele", "Bewusstsein" oder "Geistern" ein naturwissenschaftlich akzeptables Transportmittel oder einen geeigneten Aggregatszustand benutzen und sich zum Beispiel dazu herablassen, sich in einen Körper zu begeben, in einem Philosophen zu hausen oder als Ethanol ihr (Un-)Wesen zu treiben.

Weit entfernt von solchen akademischen Beschäftigungsprogrammen reicht die geisteswissenschaftliche Tradition des Geisterglaubens weit in die Vergangenheit zurück. In der Antike gehörten Ahnengeister zur natürlichen Weltordnung. Völlig selbstverständlich werden noch heute auf Madagaskar alle zehn Jahre die Gräber der Altvorderen für eine gemeinsame Feier geöffnet, inklusive Umzug und Grundreinigung der Gebeine. Das Mittelalter hingegen beschränkte seine Geister nicht mehr nur auf die eigene Sippe - ein Glück, bedenkt man die damals sprunghaft ansteigende Quote an sexueller Belästigung durch Geister (bis hin zum vollzogenen Missbrauch). In der Renaissance, als die ersten Ansätze des naturwissenschaftlichen Denkens aufkamen, entstand bei den Geistern nicht nur im übertragenen Sinne Wohnungsnot. Sie quartierten sich dann ausgerechnet bevorzugt in den Pfarrhäusern der Protestanten ein. Konsequenterweise gab es im barocken 18. Jahrhundert Unmengen an juristischer Literatur, die sich mit Rechtsfragen im Hinblick auf Spukhäuser befasste, mit entsprechenden Ansprüchen auf Mietminderung oder Rückgaberechten im Falle einer Heimsuchung.

Horace Walpole, ein Nachfahre der Brown Lady schrieb dann 1764 den ersten aller Schauerromane über eine übermächtige Vaterfigur: Darin stellt nach dem mysteriösen Tod seines schwächlichen Sohnes der Vater zum Zwecke der Familienfortführung der Verlobten seines hoffnungslosen Zöglings nach. Er setzt sie im "Schloss von Ortranto" fest, doch sie kann fliehen, und die Geschichte geht trotz aller morbiden Grundstimmung gut aus. Ähnlich funktionierten Gruselgärten dieser Epoche. Das waren Parks, in denen Raben, Wolfgeheul und eigens ausgelegte elektrische Leitungen mit schwachem Strom für düstere Stimmung und elektrischen Schrecken sorgten.

Wegrationalisierung der Geister und des Geistes

Die Begeisterung für Geister wurde auch in der Literatur des romantischen 19. Jahrhunderts immer größer, je despektierlicher die Geister aus den Wissenschaften verbannt und allerhöchstens in der Philosophie noch als "Weltgeist" zugelassen wurden (eine Umschreibung Hegels für die subversiven Absichten der Weltgeschichte, sich zu dem hinzuentwickeln, was Hegel für optimal hielt). Mit solchen Wortspielen wurde das Phänomen "Geist" dann sukzessive von einzelnen Hui-Buh-Helden wegglobalisiert hin zum hehren Begriff des Geistes als Inbegriff dessen, was die Computerspezialisten der Abteilungen für Künstliche Intelligenz nicht nachbauen konnten. Geschichten über dennoch verbleibende Geister wurden allenfalls in esoterischen Sammlungen oder in Mystery-Serien verewigt, egal wie erstaunlich diese Geschichten oder wie glaubhaft die Geschichtenerzähler waren.

So soll man zum Beispiel angeblich nachgewiesen haben können, dass bei Sterben die Körper immer um ein klein wenig leichter werde. Oder es berichtete ein Klempnerlehrling aus York, wie er 1950 in einem Keller Rohre reparierte, als auf einmal antike Legionäre an ihm vorbeimarschierten, noch dazu eine Handbreit über dem Boden. Wie sich dann herausstellte, war an dieser Stelle tatsächlich einmal eine römische Handelsstraße gewesen, eine Handbreit über dem jetzigen Bodenniveau. Dass die Soldaten entgegen der üblichen Ausstattung nicht eckige, sondern runde Schilde getragen hatten, entsprach einer regionalen Söldnertracht, von der der junge Mann im Zuge seiner Klempnerlehre nie etwas gehört hatte.

Aus ihm wurde später ein Polizeimeister, ein Hort englischen Wahrheitsanspruches, wäre England nicht das Land der schauerlichen Kombination von Lammfleisch und Pfefferminz-Sauce, das Land des Linksverkehrs, die Insel der Erfinder eines eigenen Adjektivs für schaurige Orte (nämlich "spooky"), und hätte dort nicht fast jeder Herrensitz eine schauerlich-schöne-spooky neugotische Halle mit Rüstungen, Waffen, ausgestopften Tieren, traumatischen Familiengeschichten und einer Glaubensquote an Geister von nahezu 100% seitens der entsprechenden Gutsbesitzer (wie zum Beispiel Wellington Henry Stapleton-Cotton, 2nd Viscount Combermere: Hier ist ein Foto von 1891, das diesen Herrn zum Zeitpunkt seiner Beerdigung auf seinem Lieblingssessel in seiner Bibliothek zeigt; die Belichtungszeit des Fotos betrug eine Stunde. Der Vater des Verstorbenen war übrigens Gouverneur von Barbados und als höchst seriöser Geisterjäger mit der Aufklärung der "Wandersärge von Barbados" betraut gewesen, Bleisärgen, die trotz ihres hohen Gewichts in ihrer Gruft immer wieder wirr übereinander lagen).

Die Liste solcher und noch ganz anderer Geschichten ist schier endlos. Die genannten Beispiele zeigen die harmlosen und eher beschaulichen Szenerien des ganzen Spektrums. Im Netz gibt es da noch ganz andere Sachen, die aber hauptsächlich darauf abzielen, mit miesen Tricks die Coronar-Festigkeit der Netzbenutzer zu testen, von denen spätestens nach einer Stunde Geistervideo-Recherche online jeder noch so Nervenstarke zusammenzuckt, wenn das Telefon klingelt. Schon alleine der medialen Menge an Informationen wegen ist die Wahrscheinlichkeit, früher oder später dem Thema Geister gegenüberzustehen, immens, und die Notwendigkeit einer seriösen Überblicksdarstellung ist es auch. Aber noch viel wichtiger wäre es, dem Phänomen "Geist" nachzuspüren, um die eigentlichen Gründe dafür zu entdecken, warum die Vorstellung von übersinnlichen Wesen allgemein und insbesondere von Geistern, von den PR-Agenten des Jenseits, oder auch nur die Geschichten und Vorstellungen davon eine solche Wirkung und eine so große Attraktivität haben können.

Bei aller und allergrößter Skepsis gegenüber jeglichem Hokuspokus an Geisterglauben: Nur weil bestimmte Phänomene bislang wissenschaftlich nicht erklärt werden konnten, heißt es nicht, dass es nicht irgendwelche scheinbar "geistvollen" Zusammenhänge gäbe, die spätere Wissenschaftler vielleicht irgendwann einordnen könnten. Nicht umsonst haben wirklich berühmte Physiker immer intuitiv dem nachgespürt, was ihrem ästhetischen und sinnlichen Erleben nach vorhanden war, wenn auch ohne ein wissenschaftliches Etikett. Zumindest ist die Vorstellung von Geistern dann doch durchaus erfassbarer Trost für einsame Menschen, und auch ein gutes Argument gegen Gewalt, zum Beispiel ein Argument gegen den Gattenmord, sollte der oder die entsprechende Gatte/die Gattin dann doch de facto nicht auszurotten sein.

Um den Glauben an übernatürliche Wesen quer durch alle Kulturen kümmern sich die klassischen Philosophen heutzutage in all ihrer Aufgeklärtheit leider nicht mehr - während ihre Kinder via Internet alle möglichen historischen oder frei erfundenen Hierarchien und Profile von Gespenstern auswendig lernen. Eine Geistergeschichte im Sinne der Geschichte der Geister wäre schon alleine von daher eine lohnenswerte Angelegenheit, von einer mentalitätsgeschichtlich, psychologisch und physikalisch vernetzten "Philosophie des Geistes" ganz zu schweigen.