"Physiologisch gesehen sind Frühgeborene wie Leichen"

Seite 4: Cash-Cow Neonatologie

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Die Geschäftsführung steht hinter dem Chef des Kinderklinikums. An seinen Behandlungsmethoden äußert sie keine Zweifel. Vielmehr lobt sie "überdurchschnittlich gute Behandlungsergebnisse". Insider wundert das nicht. Der Ruf der Kinderklinik Harlaching hatte bereits schwer gelitten, als 2011 der damalige Chefarzt Axel H. "entsorgt" wurde. Auf keinen Fall wolle das Klinikum ihr Image durch die Kündigung eines weiteren Chefarztes zusätzlich schädigen.

Das städtische Kinderklinikum Harlaching - es gehört zur Städtisches Klinikum München GmbH - steht unter enormem finanziellen Druck. "Wir haben 50 Prozent der Münchener Notfallpatienten und alle unlukrativen Fälle, die andere Krankenhäuser nicht wollen", sagt ein langjähriger Mitarbeiter. Das Geschäftsumfeld sei "katastrophal".

Im Februar 2011 wurde deshalb Saniererin Elizabeth Harrison gerufen. Die "Magnolie aus Stahl" sollte als neue Geschäftsführerin die städtischen Kliniken auf Vordermann bringen. Eine "Herkulesaufgabe", wie sie sagt. Eine Wende ist nicht in Sicht: Das Klinikum macht weiterhin Millionenverluste. Betriebsbedingte Kündigungen von Pflegekräften sind tarifvertraglich nur bis Ende 2014 ausgeschlossen.

Die Behandlung normaler Kinder ist kein lukratives Geschäft. Das Kinderklinikum Harlaching hat jedoch den Status eines Perinatalzentrums Level 1. Heißt: Es ist spezialisiert auf die Versorgung sehr früh geborener Babys. Das sind Patienten mit hoher Behandlungsschwere. "Finanziell gesehen sind Lungenentzündungen und Schädelprellungen Peanuts im Vergleich zu Extremfrühgeborenen", sagt ein Klinikmitarbeiter. An der Spitze dieser Abteilung wünscht man sich deshalb einen High-Performer.

Klima der Einschüchterung

Zum Krisenmanagement der Klinik gehören "Mediations- und Coaching-Gespräche". Gleichzeitig werde Mitarbeitern, die Kritik laut werden lassen, mit Kündigung gedroht, berichten Klinikangestellte. Die Klinik dementiert das. Die verbleibenden Pflegefachkräfte der K9 haben schriftliche Abmahnungen erhalten: Die Mitarbeiter hätten "erheblich unwahre Tatsachen" behauptet. Ein "Kausalzusammenhang zwischen Behandlung und Todesfolge von fünf Frühchen" sei auszuschließen. Auch könne ein "Anspülen bis der Stuhlgang aus dem Mund kam" gar nicht erfolgt sein, da dies "anatomisch unmöglich" wäre. "Das ist böswillige Wortklauberei", halten die Schwestern dagegen. "Gemeint war Dünndarminhalt, der bereits kotig ist. Der Fachbegriff ist Miserere: kotiges Erbrechen."

Es scheint um weit mehr als die Kündigungen von sechs Mitarbeitern zu gehen. "Mit den Disziplinierungsmaßnahmen will man die Beschäftigten mundtot machen", meint ein langjähriger Klinikangestellter.

Die Städtisches Klinikum München GmbH ist Spielball Münchner Wirtschafts- und Machtpolitik. Man wollte die GmbH bereits in eine gGmbH - eine gemeinnützige GmbH - umwandeln. Das hätte die Rechte der Beschäftigten massiv geschwächt. Der Betriebsrat hätte nicht mehr viel zu sagen gehabt, insbesondere bei Betriebsänderungen. Das Vorhaben ist gescheitert. "Aber die Marschrichtung ist klar", sagt der Klinikangestellte. "Aktuelle Idee ist es, die Arbeitnehmervertretungen der fünf Kliniken zu einem einzigen Betriebsrat zusammenfassen."

Whistleblowing von Meinungsfreiheit geschützt

Dass Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen Missstände in Unternehmen offen legen dürfen, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 21. Juli 2011. Eine Altenpflegerin stellte erhebliche Personal- und Qualitätsmängel in der Pflege fest. Mehrfach wies sie intern darauf hin. Als die Situation sich nicht verbesserte, machte sie öffentlich auf die Pflegemissstände aufmerksam und zeigte ihren Arbeitgeber an. Dieser kündigte ihr fristlos.

Frühgeborene können nicht für sich sprechen. Foto: Foto: Matt Cunningham. Lizenz: CC BY-ND 2.0.

Das Gericht sah die Altenpflegerin in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt und erklärte die Kündigung für unwirksam. Das Interesse an der Offenlegung von Missständen in der Altenpflege überwiege das Interesse eines Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen. Der Beschäftigte müsse allerdings Versuche unternommen haben, die Angelegenheit betriebsintern zu klären. Er müsse "gutgläubig" sein, also glauben, dass die von ihm vorgebrachten Informationen wahr sind. Die behaupteten Tatsachen seien zudem ausführlich darzulegen.

Das Gericht berücksichtigte auch die von einer Kündigung ausgehende Abschreckungswirkung für andere in der Pflege Beschäftigte. Gerade in einem Bereich, in dem es um Menschen gehe, die ihre Rechte selbst nicht wahrnehmen könnten, seien Mitarbeiter am besten geeignet, auf Missstände hinzuweisen.

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