Plädoyer für Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg

Seite 3: Was der ukrainische Traum vom Sieg bedeutet

Der ukrainische Traum vom Sieg über Russland und die vollständige Rückeroberung der besetzten Gebiete gleicht in Wirklichkeit einem Albtraum, der auf Jahrzehnte eine Revanche Russlands und wieder Krieg bedeuten würde.

Deshalb muss der Westen, müssen vor allem die USA eine kompromissfähige Verhandlungsinitiative ergreifen. Dieser Vorschlag ist moralisch gesehen zweifelhaft. Warum soll der Überfallene dem der Aggressor, der das Recht zum Krieg missbraucht hat und der das Kriegsrecht mit Füßen tritt, entgegenkommen?

Es gibt nur einen Grund, um Verhandlungen zu befürworten: wenn Verwüstung des Landes, Tod und Verzweiflung der Menschen jegliche moralische Proportionalität übersteigen, dann erscheint die Forderung nach Fortsetzung der Gewalt nicht nur tapfer, sondern politisch und vielleicht auch moralisch fragwürdig, so der Völkerrechtler Reinhard Merkel.

Verhandeln bedeutet ja nicht kapitulieren! Deshalb sollte der Westen seine Waffen nicht mehr bedingungslos an die Ukraine liefern. Die Waffen sollten vielmehr dem Ziel dienen, die Ukraine militärisch in eine starke Verhandlungsposition zu versetzen. Es kann nicht mehr alleine Sache der Ukraine bleiben, ob sie verhandeln wollen oder nicht, wenn außerdem in den Krieg und seinen möglichen Folgen ganz Europa involviert ist.

Deshalb müssen die Waffenlieferungen an Konditionen gebunden werden. Nur wenn Kiew Verhandlungen aufnimmt, sollten sie weiter geliefert werden, nicht um zu siegen, sondern eine Position der Stärke zu garantieren, damit Kiew selbstbewusst, aber auch kompromissbereit verhandeln kann.

Wie könnte Eckpunkte für Verhandlungen aussehen?

  • Russland muss verdeutlicht werden, dass es diesen Krieg nicht gewinnen kann, weil der Westen mit weiteren Waffenlieferungen eine Niederlage der Ukraine verhindern wird. Putin muss also mittelfristig damit rechnen, dass Russland wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch ausblutet. Er muss dann auch einkalkulieren, dass sein Regime kollabiert, dass Russland zum Paria und zum Bittsteller in China herabsinkt.
  • Die russischen Truppen müssen sich auf die Grenzen unmittelbar vor Ausbruch des Krieges zurückziehen. Beide Seiten müssten sich darauf verständigen, dass die territorialen Fragen mit dem Willen zum Kompromiss behandelt werden. Da direkte Verhandlungen hier besonders problematisch sind, müssten Mediatoren vermitteln. Das könnte die Uno, oder auch andere Institutionen oder auch vermittelnde Staaten oder Persönlichkeiten sein.
  • Russland müsste territoriale Integrität und Souveränität garantiert werden und eine Rückkehr in die europäische Friedensordnung. Die Vision von Gorbatschow, einem gemeinsamen europäischen Haus, bislang von Russland und dem Westen abgelehnt, könnte ein Wegweiser sein.
  • Der Westen respektiert die russische Regierung, vorausgesetzt, dass diese die UN-Charta, internationales Recht und Russlands vertragliche Verpflichtungen einhält bzw. wieder anerkennt.
  • In dem Umfang, in dem Russland zu den Gesetzen und Regeln gut nachbarschaftlichen Verhaltens zurückkehrt, werden die Sanktionen erleichtert und eingestellt, nachdem Russland seine Truppen zurückzieht und eine Demilitarisierung einsetzt.
  • Die Krim ist das territoriale Hauptproblem einer Friedenslösung zwischen der Ukraine und Russland. Die Ukraine und Russland sollten diese Frage bestenfalls vorerst ausklammern, um zu einem Waffenstillstand und Verhandlungen zu kommen. Die Krim könnte dann Gegenstand zukünftiger Verhandlungen werden.

Der Westen kann nicht nur mit Druck Russland zum Einlenken bringen, sondern muss Anreize bieten. So schwer es moralisch fällt, aber internationale Legitimation der russischen Führung und eine Begegnung auf Augenhöhe ist unverzichtbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Verhandlungsführung mit Russland. Deren Vertreter aus Militär und Politik werden nur an den Verhandlungstisch kommen, wenn sie wissen, dass sie nicht vor das Haager Kriegstribunal landen, sondern als legitime Vertreter Russland erscheinen.

"Gerechtigkeit oder Ordnung?" lautet die Schlüsselfrage. Sie kann nicht für alle Seiten befriedigend beantwortet werden. So wünschenswert der Ruf nach Gerechtigkeit sein mag, vor allem nach der brutaler Kriegsführung, aber das Ordnungsprinzip ist langfristig bedeutsamer.

Ordnung ist ein höheres Gut in der Weltpolitik als Gerechtigkeit. Denn auf der anderen Seite abseits von Ordnung lauert Anarchie.

Ein Blick auf Afghanistan, den Irak, Syrien oder Libyen erinnert uns daran, dass der Westen hochmütig Diktaturen stürzen und Demokratie exportieren wollte, mit dem Ergebnis: Anarchie!

Die USA sind nicht mehr das vorbildliche Arsenal für Demokratie unter der Führung von Präsident Franklin D. Roosevelt, sondern eine absteigende Macht, die im Niedergang, um so rücksichtsloser ihre Vormachtstellung zu sichern sucht.

Zum Hauptgegner ist die Volksrepublik China avanciert, die – wie keine zweite Macht in der modernen Geschichte – den USA nicht nur auf Augenhöhe begegnet, sondern selbstbewusst herausfordert.

China ist heute zum Arsenal der Autokratie avanciert. Auch deshalb ist zu bezweifeln, ob China als ideologischer Partner Russlands im Kampf gegen die USA eine Niederlage Russlands im Krieg hinnehmen würde.

Folglich erscheint ein besiegtes Russland schwer vorstellbar, steht aber im Wunschkatalog des Westens weiter ganz oben, obgleich Niederlage, Sturz des Regimes und Auflösung der Russischen Föderation die Folge sein könnte – ein Albtraum. Anarchie in bislang unbekannter Größenordnung wäre nicht auszuschließen.

Eine gerechte Ordnung bleibt Illusion. Aber eine ungerechte Ordnung ist der Anarchie oder der Wiederkehr eines revanchistischen Krieges allemal zu bevorzugen. Deshalb sollten sich alle Beteiligten des Krieges in der Ukraine auf eine europäische Friedensordnung einigen, in der auch Russland seinen Platz findet. Nur so wird dauerhafter Frieden und Ausgleich möglich sein.

Auch eine Rückkehr zur Anerkennung der Prinzipien des westfälischen Friedens wären wünschenswert. Die außenpolitischen Probleme wurden nicht zuletzt dadurch verschärft, dass der Westen wie auch Russland die Prinzipien Nichteinmischung und staatliche Souveränität sträflich missachtet haben.

Die außenpolitischen Konflikte zwischen Demokratien und Diktaturen sind schwierig genug. Es ist deshalb unsinnig, dass diese durch die Einmischung in die inneren Angelegenheiten weiter verschärft werden! Hier ist Abkehr gefordert. Größeres Verständnis für Kultur und Geschichte anderer Länder wäre hilfreicher, statt moralisierender Selbstgerechtigkeit!

Leider haben Einflusssphären in einer moralisiert aufgeladenen Diskussion heute einen schlechten Klang. Zu Unrecht, denn sie sind unausgesprochen der Garant für Frieden, solange wechselseitig stillschweigendes Übereinkommen über die jeweiligen Interessensphären herrscht und diese auch wechselseitig respektiert werden.

Der außenpolitisch neutrale Status der Ukraine wäre die bestmögliche Kompromisslösung, um den Konflikt beider Seiten, um Einflusssphären beizulegen.

Im Übrigen stellt sich die Frage, welche vitalen nationalen Interessen für die USA 8.000 Kilometer entfernt, in der Ukraine auf dem Spiel stehen?

Oder haben sie nicht schon lange vor dem Krieg den Konflikt geschürt, weil sie angesichts eigener hegemonialer Interessen vitale russische Sicherheitsinteressen über Gebühr strapaziert haben?

Henry Kissinger erinnert berechtigterweise daran, dass die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts regionale Vorläufer hatten wie die Kriege vor 1914 auf dem Balkan, 1936 in Abessinien und in Spanien sowie Japans Angriffskriege in Asien.

Man soll die Geschichte nicht überstrapazieren, aber die Kriege auf dem Balkan in den Neunzigerjahren und jetzt der Krieg in und um die Ukraine könnten eines Tages retrospektiv als Vorboten für weltpolitische Verwerfungen angesehen werden, zumal die Eskalationsspirale zwischen den USA und China nichts Gutes verheißt. Auch nicht für Deutschland und Europa.

Und wer erinnert noch daran, dass auch die neuen globalen Probleme nur durch Kooperation zwischen Demokratien und Autoritären gelöst werden können!

Die verhandlungspolitische Beilegung des Ukraine-Krieges erscheint also unabdingbar, weil bei Fortsetzung und Eskalation weit mehr auf dem Spiel steht: Europas Schicksal und das Schicksal der Welt.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.