Plagiate und das Versagen von Bibliotheken, Verlagen und Tätern

Seite 2: Realität zu Entzugshinweisen

Ob und wie Bibliotheken Hinweise zu Plagiaten und zum Entzug eines Doktorgrades anbringen, ist im föderalen Deutschland sehr unter- schiedlich. Die Universität Erlangen-Nürnberg etwa kennzeichnet vor- bildlich und aus eigenem Antrieb. Andere Universitäten bringen solche Hinweise erst nach entsprechender journalistischer Nachfrage an. So schreibt mir die Universität Gießen im April 2021:

Der Doktorgrad wurde Herrn [...] – wie Sie korrekt feststellen – durch die JLU entzogen. Das Verfahren hat im August des vergangenen Jahres seinen rechtskräftigen Abschluss gefunden und wurde formell vom zuständigen Fachbereich beendet.

Bedauerlicherweise hatte eine diesbezügliche Information dazu die UB [Universitätsbibliothek] nicht erreicht, so dass dort zunächst keine Aktualisierung vorgenommen werden konnte. Inzwischen ist die entsprechende Datei über die Giessener Elektronische Bibliothek (GEB) nicht mehr abrufbar und ein entsprechender Vermerk ist auf der Frontpage zu finden.

Anders verhält es sich bei der Berliner Humboldt-Universität, etwa im Fall Sch. und ihrer Dissertation zu "Illness, Media, and Culture – Ein interkultureller Vergleich der Darstellung von Allergien in englischen und US-amerikanischen Lifestyle-Magazinen". Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ist zu diesem Werk angemerkt:

Diese Dissertation ist aus rechtlichen Gründen gesperrt. Ursprünglich als Dissertation veröffentlicht, Doktorgrad wurde am 12.07.2019 entzogen.

Zwei Zeilen darüber findet sich jedoch ein Link auf den Dokumentenserver der Humboldt-Universität, auf dem die Arbeit bis Redaktionsschluss dieses Buches vorgehalten wird, sogar "kostenfrei zugänglich", wie es ausdrücklich heißt (und zutreffend ist). Von einer Sperrung ist nichts zu merken.

Die Humboldt-Universität hat in ihren bibliographischen Hinweisen keine Anmerkung zum Gradentzug angebracht, auch nicht in der Textdatei. Vielmehr steht dort immer noch "Dissertation". Das gilt auch für den universitätseigenen Bibliothekskatalog. Unter "Öffentliche Notizen" steht dort bei der Online-Version lediglich: "kostenfrei". Für die Version auf Papier ist notiert: "Exemplar ist am Standort". Im Text ist sogar noch die Selbständigkeitserklärung enthalten: "Hiermit erkläre ich, [Sch.], die vorliegende Dissertation selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt zu haben."

Als Leserin oder Leser erfährt man vom Entzug des Grads ausschließlich aus dem Katalog der Deutschen Nationalbibliothek, und dort ohne Angabe eines Grundes.

Im Fall He. hat die Universität Hamburg folgenden Vermerk in ihren Bibliothekskatalog eingefügt: "Gilt nicht mehr als Hochschulschrift, 06.10.2017." Allerdings fällt der Hinweis im unteren Drittel der bibliographischen Angaben kaum auf. Prominenter ist weiterhin diese Information in der dritten Zeile, direkt unter der Verfasserangabe: "Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1997-1998". Dabei steht "Diss." für Dissertation.

Fehlende Hinweise in Bibliotheken

Ein Blick in den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek zeigt: Dort gibt es keinen Hinweis auf einen Entzug des Doktorgrades. Bei einem Online-Buchhändler ist das Werk für 55,20 Euro weiter zu er- werben. Die einzige Leserrezension des Bandes enthält unter dem Titel "Bestechend scharfe Analyse" dieses Lob:

Besonders hervorzuheben ist die sprachliche Präzision, mit der [H.] seine umfassende Untersuchung vorträgt – sicher auch ein Verdienst des fachmännischen Lektorats, für welches [H.] mit dem Hamburger Philologen [...] einen Experten ersten Ranges verpflichten konnte.

Der Zweitgutachter der Dissertation sagte nach Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe:

Ich hatte bereits in meinem Zweitgutachten zur Dissertation [des H.] zum Ausdruck gebracht, dass die Dissertation im Wesentlichen nur bereits bekannte Erkenntnisse enthält. [...] Ich sehe mich in meiner damaligen, für die Beurteilung maßgebenden Annahme getäuscht, dass – mögen auch die Erkenntnisse im Wesentlichen nicht neu gewesen sein – doch die gesamte Darstellung inhaltlich und textlich allein vom Verfasser stammt. Hierin hatte ich die eigene Leistung des Verfassers gesehen. Die Grundlage für diese Beurteilung ist vollständig entfallen.

Vroni Plag Wiki hat auf 86,1 Prozent der Textseiten Übernahmen dokumentiert. Dass es sich bei dem Werk um ein teilweises Plagiat handelt, ist aber, auch aufgrund der fehlenden Hinweise in Bibliothekskatalo- gen, kaum bekannt. Das Buch wird weiter munter zitiert, etwa im Jahr 2018 in einer Berliner Promotion.

Auch der Fall Ho. ereignete sich an der Universität Hamburg. Der Doktorgrad wurde 2017 entzogen. Im Bibliothekskatalog der Hoch- schule heißt es: "Gilt nicht mehr als Hochschulschrift", ohne Angabe des Grundes.

Der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ist in diesem Fall auskunftsfreudiger. Hier heißt es: "Dieses Dokument ist aus rechtlichen Gründen gesperrt. Ursprünglich als Dissertation veröffentlicht, Doktorgrad wurde 2017 entzogen."

Warum ist diese Information im Fall Ho. vorhanden, im Fall He. aber nicht? Die Deut- sche Nationalbibliothek wird nicht automatisch über Gradentzüge informiert. Vielmehr erfolgt das oft eher zufällig, manchmal auch nur aufgrund eines Hinweises aus der Nutzer(innen)schaft der Bibliothek. Auch ich habe bereits solche Hinweise an die Titelaufnahme (E-Mail: Titelanfragen@dnb.de) gegeben.

Wenn der Gradentzug belegt ist, etwa durch Abschrift eines diesbezüglichen Gerichtsurteils, ergänzt die Nationalbibliothek ihre bibliographischen Hinweise. Trotzdem ist die Doktorarbeit, ggf. erst nach Rücksprache, weiter verfügbar. Das halte ich auch für richtig. Eine Zensur sollte nicht stattfinden. Zudem muss die Überprüfung der Plagiatsvorwürfe für jedermann möglich sein. Deshalb ist es gut, wenn solche Dissertationen, wie alle anderen auch, dauerhaft archiviert bleiben.

Im Fall Ma. hat sich die Universitätsbibliothek Münster eine kreative Lösung einfallen lassen. Zur ursprünglich online verfügbaren Doktorarbeit heißt es nun auf dem Dokumentenserver: "Entzug des Doktorgrades 2019. Die Dateien dieses Dokuments sind nicht frei zugänglich. Bitte nutzen Sie die gedruckte Version." Das hat zur Folge, dass keine Online-Versionen mehr durchs Internet geistern und zitiert werden, die Arbeit aber weiterhin ausgeliehen und gelesen werden kann.

Die VroniPlag Wiki-Mitwirkende und Berliner Informatikprofessorin Debora Weber-Wulff hat eine Liste aller Entzugsvermerke nach Entzügen wegen Plagiaten erstellt.

Die knapp 100 Vermerke enthalten in keinem einzigen Fall den Hinweis auf Plagiate. "Datenschutzrechtlich steht einem Vermerk aber nichts entgegen. Im Sinne der Wissenschaft ist er auch", meint dazu der Datenschutzexperte und Jurist Rolf Schwartmann in der F.A.Z. vom 22. September 2018.

Weber-Wulff führt eine weitere (leider unvollständige) Liste mit Doktorgraden, die unabhängig von Dokumentationen in VroniPlag Wiki entzogen wurden.

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