Polare Weihnachtsblumen

Geophysiker entdecken, dass Bromexplosionen und Meereisblumen in der Arktis und Antarktis die Zusammensetzung der polaren Atmosphäre beeinflussen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit Ende der 80er Jahre ist bekannt, dass sich im Frühjahr und Herbst in der Arktis und Antarktis so genannte Bromexplosionen ereignen. Bei solchen Vorgängen werden große Mengen an Brom vom Meer in die Atmosphäre abgegeben, was zum fast vollständigen Abbau des Ozons in der unteren Atmosphäre führt. Als Verursacher machten die Forscher freie Brom-Radikale aus; nur über deren Herkunft rätselten sie bis dato. Dank neuester Beobachtungen mit dem Umweltsatelliten ENVISAT, der seit Sommer 2002 u.a. die großräumige Verteilung dieser Bromexplosionen dokumentiert, konnten Umweltphysiker der Universität Bremen nun erstmals die Quelle des Broms identifizieren.

Meereisblumen auf einer "überfrorenen" Rinne, fotografiert in der Nähe von Spitzbergen. Die Eiskristalle saugen das konzentrierte Salzwasser von der Oberfläche des darunter liegenden jungen Meereises. Bild: Stefan Kern, Universität Hamburg

Alle Jahre wieder, vorzugsweise im Frühjahr und Herbst, spielen sich in der Arktis und Antarktis seltsame Dinge ab. Fernab der irdischen Zivilisation - und damit auch in der Regel höchst selten in Anwesenheit von "Augenzeugen" - kommt es am Nord- und Südpol zu ungewöhnlichen Explosionen, die einerseits mit einem sehr bizarren Phänomen einhergehen, andererseits optisch wunderschöne Strukturen hervorbringen.

Großflächiger Prozess an beiden Polen

Genauer gesagt handelt es sich bei dem bizarren Phänomen um Bromexplosionen, die sich im Gebiet des Meereises zutragen und die große Mengen an Brom (Br) in die Atmosphäre freisetzen. Dieser Prozess, der großflächig im Bereich beider Pole stattfindet, nimmt in der Regel meist seinen Anfang, wenn in polaren Gefilden entlang den Küsten ablandige Winde das Eis aufreißen und danach das Meerwasser zu Meereis gefriert.

Binnen weniger Stunden entsteht dort eine konzentrierte Salzlake an der Eisoberfläche. Auf dieser Oberfläche wachsen Eiskristalle von etwa zwei Zentimeter Größe, so genannte Meereisblumen ("Frost Flowers"), die große Mengen an Meersalz, darunter auch Bromminerale, speichern. Unter dem Einfluss von Sonnenstrahlen löst sich das hierin reichlich vorhandene Brom aus den Eiskristallen . Das bei diesem Vorgang entweichende Bromoxid lässt sich dann durch Satelliten-Spektrometer über dem Meereis nachweisen.

Verteilung von Brom über dem Nordpol im April 2004. Erhöhte Brom-Konzentrationen (rot) sind über den Regionen, in denen neues Meereis gebildet wird, zu finden. Bild: DLR

Auch wenn die Geophysiker schon seit einigen Jahren im arktischen und antarktischen Frühjahr und Herbst hin und wieder einen explosionsartigen Anstieg des mit Chlor verwandten Elements verzeichnen, ist es ihnen nach wie vor schleierhaft, warum sich Brom-Explosionen überhaupt zutragen, und wieso die Menge des Salzgehalts in dem Eis so hoch ist.

Effektvolle, pittoreske Eisblumen

Ein anderes Problem, auf das die Geophysiker bislang noch keine Antwort gefunden haben, hängt mit der Ende der 80er Jahre gemachten Entdeckung der Ozonzerstörung in der unteren Atmosphäre (Troposphäre) zusammen. Während die industriell produzierten FCKWs als Verursacher für den Ozonabbau in den oberen Atmosphärenschichten (Stratosphäre) schnell identifiziert wurden, tappten die Forscher hinsichtlich der Quelle, die die troposphärische Ozonzerstörung vorantreibt, im Dunklen. Wer oder was die freien Brom-Radikale produzierte, war völlig nebulös.

Unlängst konnte aber eine Gruppe von Forschern der Universität Bremen und Heidelberg sowie des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI in Bremerhaven durch Kombination der satellitengestützten Brom-Messungen mit Daten der Eisbedeckung und meteorologischen Daten (Wind, Temperatur) einen plausiblen Zusammenhang zwischen der großflächigen Verteilung der Bromexplosionen sowie deren Zusammenhang mit dem Auftreten von Meereisblumen herstellen. Ihr Fazit: Die pittoresken Eisblumen beeinflussen die Zusammensetzung der polaren Atmosphäre.

"Werden große Mengen an Brom vom Meer in die Atmosphäre abgegeben, führt dies zum fast vollständigen Abbau des bodennahen Ozons in diesen Regionen", erklärt Prof. J. Burrows von der Arbeitsgruppe Physik und Chemie der Atmosphäre (Institut für Umweltphysik) der Universität Bremen. Wir sprechen hier von "Low Ozon Events". Dass das bodennahe Ozon dann vollständig abgebaut wird, ist seit 1988 bekannt. Wir sind noch dabei, den Gehalt des Ozons zu quantifizieren."

ENVISAT sei dank!

Dank des Atmosphärensensors SCIAMACHY (Scanning Imaging Absorption Spectrometer for Atmospheric Chartography), eines von zehn wissenschaftlichen Instrumenten, das auf dem europäischen Erdbeobachtungs- und Umweltsatelliten ENVISAT installiert ist, konnten Burrow und sein Team immerhin erstmals Bromoxidwolken in natura sehen.

Der Umwelt-Satellit ENVISAT soll bis mindestens 2007 in einer Umlaufbahn von 800 Kilometern Höhe Umweltdaten der Erde erheben. Mit wichtigen Beiträgen wie beispielsweise den Instrumenten SCIAMACHY und MIPAS beteiligt sich Deutschland an ENVISAT, den größten Umweltsatelliten aller Zeiten (Größe im Orbit: 26 x 10 x 5 Meter). Bild: Esa (Artist's view)

Den Blick auf die Erde gerichtet, misst das vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und der niederländischen Raumfahrtagentur (NIVR betriebene Experiment SCIAMACHY nicht nur die Luftqualität, sondern auch den Treibhauseffekt und die ozonchemie-relevanten Konzentrationen von Spurengasen.

ENVISAT, das Mutterschiff, auf dem sich SCIAMACHY befindet, ist der weltgrößte Satellit zur Umweltbeobachtung und wurde am 1. März 2002 von Kourou, Französisch Guyana, mit einer Ariane 5-Rakete ins All gehievt.

Burrows Studie zeigt die große Bedeutung des Meereises für das Klimasystem der Erde aus völlig neuer Perspektive. Bisher standen die physikalischen Eigenschaften des Meereises für das Klimasystem im Vordergrund der internationalen Forschung. Nun wird das Interesse auf ein sehr junges Forschungsgebiet gelenkt, der physikalisch-chemischen Wechselwirkung zwischen dem Meereis, dem Ozean und der Atmosphäre. Daher hofft Burrow, dass der neu entdeckte Mechanismus und der wichtige Part, den Meereisblumen dabei ausfüllen, nicht nur bei Interpretation von Eisbohrungen, sondern auch bei der Rekonstruktion des Klima der vergangenen Jahrtausende hilfreich ist. "Alle Einzelheiten haben wir noch nicht verstanden. Hierzu brauchen wir noch mehr Forschung."

Wie dem auch sei - netterweise passt doch die weiße Farbenpracht irgendwie zu Weihnachten, zumal sie sich ausgerechnet in jenen Gefilden zur Blüte enfaltet, in denen der Santa-Claus-Legende nach der Weihnachtsmann zuhause sein soll. Nun, mögen die "Frost Flowers" als polare Weihnachtsblumen ihm und all jenen "optischen" Trost spenden, die auf Weiße Weihnacht(en) gehofft haben, von Frau Holle aber gänzlich im Stich gelassen wurden.

Ein besinnliches und sinnliches Weihnachtsfest wünscht Ihnen der Autor dieser Zeilen!