Polen und Obamas kleine und große Raketen
Polens Regierung will Patriot-Raketen und das Raketenabwehrsystem, die US-Regierung zögert in beiden Fällen, die Bauarbeiten an der Raketenbasis in der Nähe von Slupsk werden aber fortgeführt
Die erste große außenpolitische Herausforderung hat Barack Obama mit Bravour bestanden. Egal ob in der westlichen oder islamischen Welt, seine Kairoer Rede wird von den meisten Beobachtern gelobt. Im Juli muss der amerikanische Präsident jedoch erneut sein politisches Geschick unter Beweis stellen. Vom 6.-8. Juli wird Obama in Russland weilen. Dann wird das umstrittene amerikanische Raketenschutzschild eine wichtige Rolle spielen. Doch welche Zukunft die US- Raketenabwehr in Osteuropa hat, scheint Obama momentan selber nicht genau zu wissen. Während er dem Kreml eine Teilnahme an dem Projekt anbietet, Polen als Gegenleistung für seine Teilnahme unbewaffnete Patriot-Raketen geben will, wird an der zum System dazugehörenden Raketenbasis in der Nähe von Slupsk weiterhin gearbeitet.
Erleichtert war der polnische Präsident Lech Kaczynski im November, als er zum ersten Mal mit dem wenige Tage zuvor zum US-Präsidenten gewählten Barack Obama telefonierte. Bis dahin machte das polnische Staatsoberhaupt keinen besonderen Hehl daraus, dass ihm ein Republikaner im Weißen Haus lieber wäre als der Hoffnungsträger aus Chicago. Aus einem simplen Grund: Von einem John McCain erhoffte sich Kaczynski dieselben sicherheitspolitischen Garantien für Polen wie von George W. Bush. Und die Teilnahme Warschaus am umstrittenen Raketenabwehrsystem, für die sich Kaczynski gemeinsam mit seinem Bruder in den letzten Jahren stark machte ("Eine beschlossene Sache"), war ein Teil dieser Sicherheitspolitik, die das Land an der Weichsel vor dem russischen Nachbar schützen sollte und die auch von Obama fortgeführt werden würde, wie Kaczynski nach seinem ersten Telefonat mit dem neuen starken Mann der USA glaubte. „Die Errichtung des Raketenabwehrsystems wird fortgeführt“, ließ die Präsidialkanzlei verlauten.
Das war jedoch verfrüht und brachte Barack Obama nicht nur außenpolitisch in Bedrängnis, sondern stellte gleichzeitig auch die Englischkenntnisse Kaczynskis, beziehungsweise seines Übersetzers, in Frage. Denn kurz nach der Verlautbarung des polnischen Präsidenten sah sich das Büro von Barack Obama zu einer Richtigstellung des Telefonats gezwungen. „Obama werde das Raketenabwehrsystem unterstützen, wenn sich die Technik in der Praxis bewährt hat“, hieß es in der Reaktion aus den USA. Eine schon aus dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf bekannte Ankündigung Obamas, die der ehemalige Senator auch seinem polnischen Amtskollegen am Telefon verkündete.
Für die polnische Öffentlichkeit war die Richtigstellung aus Washington ein gefundenes Fressen. Hand in Hand überschütteten die Medien und die politischen Gegner den Präsidenten, der im vergangenen Herbst in einer Umfrage zum schlechtesten Präsidenten seit der Wende von 1989 erkoren wurde, mit Spott. Nicht zum ersten Mal. Seit seinem Amtsantritt leistet sich Kaczynski regelmäßig politische Fettnäpfchen. Aber so laut die Spott- und Hohngesänge auf Lech Kaczynski auch diesmal waren, die neuen Töne aus Washington beunruhigten alle politischen Lager in Warschau, egal ob links, liberal oder konservativ. Wer bisher an der Regierung war, bemühte sich stets um eine enge Beziehung zu Washington, und riskierte dabei viel.
Polnisch-amerikanische Geschäfte
Die linke SLD-Regierung von Leszek Miller schickte polnische Soldaten nach Afghanistan und, für viele Europäer unverständlich, auch in den Irak. Zudem, wie neueste Ermittlungen der polnischen Staatsanwaltschaft beweisen, ergänzt durch unabhängige Recherchen der Tageszeitung Rzeczpospolita und des Fernsehsenders TVP Info, war die Miller-Regierung auch tiefer verstrickt in die Entführungen der CIA, als bisher angenommen. Dem US-Geheimdienst wurde nicht nur ein Schulungszentrum des polnischen Nachrichtendienstes in den Masuren zur Verfügung gestellt, in dem die Amerikaner ein Foltergefängnis errichteten, sondern auch gleich 20 polnische Geheimagenten. Und als ob dies nicht genug wäre, deckte die damalige Regierung die Geheimflüge der CIA, indem sie diese als Regierungsflüge deklarierte. Im Gegenzug erhielt Warschau vergünstigte F-16 Jets.
Eine Gegenleistung von den USA erhoffte sich ebenfalls die konservative Regierung von Jaroslaw Kaczynski, die nicht nur das polnische Engagement im Irak und Afghanistan fortsetzte, sondern der Regierung von George W. Bush auch die polnische Teilnahme am amerikanischen Raketenabwehrsystem offerierte ("Eine beschlossene Sache"). Doch bei ihrer übertriebenen Angst vor dem russischen Nachbar vergaßen die Kaczynskis auf amerikanische Gegenleistungen zu bestehen. „Können wir akzeptieren, dass der mächtigste Staat der Welt seine eigene Sicherheit auf unsere Kosten sichert“, fragte 2007 der renommierte polnische Politologe Roman Kuzniar rhetorisch. Die Frage kostete dem Gegner des Raketenabwehrsystems seine Stelle als Direktor des vom Staat finanzierten Polnischen Instituts für Internationale Beziehungen.
Ebenfalls unzufrieden über den Verlauf der Verhandlungen mit den USA zeigte sich 2007 Donald Tusk. Der Vorsitzende der liberalen PO bemängelte, dass die Regierung von Jaroslaw Kaczynski von den USA zu wenige Gegenleistungen verlange. Eine Kritik, die Tusk im Parlamentswahlkampf bekräftigte und bei einem möglichen Wahlsieg Veränderungen in der Außenpolitik ankündigte, auch in Bezug auf die USA. Gleich nach ihrem Wahlerfolg beschloss die neue polnische Regierung den Rückzug aus dem Irak (Polen: Raus aus dem Irak, hinein nach Afghanistan). Und auch die polnische Haltung bei den Verhandlungen mit Washington über das Raketenabwehrsystem änderte sich. Tusk stellte so hohe Forderungen an die Bush-Administration, dass es fast schien, als ob die zum Raketenschutzschild gehörende Raketenbasis nicht in Polen errichtet werden würde (Misstöne zwischen Verbündeten). Erst der russisch-georgische Konflikt führte zu einer Einigung) zwischen Warschau und Washington, welches sich bereit erklärte, die meisten polnischen Forderungen zu erfüllen.
Vielleicht hätte die polnische Regierung aber mit dem Vertragsabschluss bis zu den US-Präsidentschaftswahlen warten sollen. Diesen Eindruck erweckte im Januar jedenfalls kein geringerer als Zbigniew Brzezinski. In einem viel beachteten Interview erläuterte der außenpolitische Berater des neuen US-Präsidenten, dass Obama, ähnlich wie Tusk in der polnischen, neue Wege in der amerikanischen Diplomatie einschlagen werde, und dies notfalls auf Kosten des Raketenschutzschilds. Von einer notwendigen Annäherung zwischen Moskau und dem Westen sprach Brzezinski, sowie den Bedenken wegen der finanziell hohen Kosten und der unausgereiften Technik, die die neue US-Regierung bezüglich des Raketenabwehrsystems habe. „Ruhig und abwartend“, so der polnischstämmige US-Politologe, solle sich Warschau zum Thema Raketenabwehr verhalten.
Die Empfehlung war in erster Linie an Donald Tusk gerichtet. Für den Premier, der bei den Verhandlungen mit der Bush-Regierung hoch pokerte und dabei auch innenpolitisch viel riskierte, wäre eine Abkehr der USA vom Raketenabwehrsystem eine herbe politische Niederlage. Erst Recht, wenn die Amerikaner sich dadurch nicht verpflichtet fühlen würden, ihren Teil der im August 2008 geschlossen Vereinbarung zu erfüllen. Eine polnische Sorge, die Obama bewusst ist. „Die Partner der USA werden nicht im Regen stehengelassen“, verkündete Washington zur Beginn der Präsidentschaft Obamas. Und was dies für Polen bedeutet, erklärte im Februar Verteidigungsminister Bogdan Klich. „Beim Thema der Patriot-Raketen hat sich überhaupt nichts verändert. Noch 2009 sollen diese in Polen stationiert werden, wie im August vereinbart“, sagte Klich nach einem Gespräch mit seinem amerikanischen Amtskollegen Robert Gates auf der NATO-Verteidigungsministerkonferenz in Krakau.
Damit würde Washington die wichtigste Forderung Polens erfüllen, welches sich durch die Patriot-Raketen eine effektivere Luftverteidigung verspricht, gegen die der Kreml offiziell nichts einzuwenden hat. Doch es könnte sein, dass die Amerikaner selber etwas gegen die Patriot-Raketen haben. „Bereits im letzten Jahr habe ich den Russen gesagt, dass keine Raketen notwendig wären, wenn keine Gefahr von iranischen Raketen ausgehen würde“, sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates im Februar in einem Interview für die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita. Eine Aussage, die bei einiger Interpretation auch die Patriot-Raketen in Frage stellt.
Diese Mutmaßung erhärtet sich jedenfalls durch die Entwicklung der letzten Wochen. Im Mai begannen die USA und Russland ihre Verhandlungen über ein neues ABM-Abkommen. Wie Wladimir Putin schon vor dem Beginn der Gespräche klarstellte, werde es bei den Neuverhandlungen über das START-Abkommen, welches 1991 geschlossen wurde und am 5. Dezember dieses Jahres ausläuft, auch um das in Polen und Tschechien geplante Raketenabwehrsystem gehen. Diese Ankündigung wurde von Russlands Außenminister Sergej Lawrow bekräftigt. „Es ist unmöglich, über die Reduzierung der atomaren Waffenarsenale zu verhandeln, ohne dabei das geplante Raketenabwehrsystem anzusprechen.“
Gerangel um Patriot-Raketen und Raketenabwehrsystem
Und ähnlich scheint auch die amerikanische Regierung zu denken. Bedingt durch die Fortschritte Teherans bei der Entwicklung seiner Nuklearwaffen, machte auch sie das umstrittene Raketenabwehrsystem, welches nach Meinung amerikanischer und russischer Experten ineffektiv ist, zum Thema der Abrüstungsgespräche. Dabei scheuten sich die USA auch nicht, für die russische Seite überraschende Vorschläge zu machen. Am Dienstag vergangener Woche zeigte sich der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates optimistisch, was die russische Teilnahme an einem Verteidigungssystem gegen iranische Nuklearwaffen angeht. Und bereits am 9. Juni sprach Gates vor dem US-Senat von einer möglichen Radaranlage auf russischem Staatsterritorium. Das würde Moskau von der Errichtung des Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechien abhängig machen, wie der Sprecher des russischen Außenministers am 15. Juni erklärte, russische Militärexperten halten dies jedoch für kaum realistisch. „Für Russland ist der Zugang der Amerikaner zu seinem Territorium aus politischen und psychologischen Erwägungen heraus unrealistisch. Die heutigen Regierenden in Moskau werden das nicht ernsthaft prüfen“, erklärte beispielsweise Michail Barabanow, Chefredakteur der Moscow Defence Brief, in der Tageszeitung Kommersant.
In Warschau sorgten diese Nachrichten trotzdem für Unruhe. „Wir erwarten eine klare Stellungnahme der USA bezüglich ihrer Pläne zum Raketenschutzschild“, erklärte der polnische Regierungssprecher Pawel Gras am 15. Juni. „Es ist eine fundamentale Frage, auf die wir eine endgültige Antwort brauchen. Wir haben unseren Teil der Vereinbarung erfüllt. Polen ist auf die Raketenbasis vorbereitet und wartet auf sie“, sagte Gras weiter und betonte noch einmal, dass die polnische Regierung von den USA auch dann Patriot-Raketen verlange, wenn diese das Projekt des Raketenschutzschilds aufgeben.
Doch ausgerechnet die Patriot-Raketen führten in den letzten Wochen zu einigen Unstimmigkeiten zwischen Warschau und Washington. Am 23. Mai berichtete die Gazeta Wyborcza, die sich dabei auf Quellen aus Washington berief, dass Polen zwar die gewünschten Patriot-Raketen erhalte, jedoch ohne Sprengköpfe. Nach Angaben der liberalen Tageszeitung sollen die Raketen nur zu Übungszwecken in Polen stationiert werden. Eine Nachricht, die Verteidigungsminister Klich am 11. Juni in der Brüsseler NATO-Zentrale von seinem amerikanischen Amtskollegen bei einem Gespräch bestätigt bekam. „Polen ist keine Waffenmesse“, zürnte Klich darauf noch in Brüssel und betonte wiederholt, dass Polen auf voll einsatzfähige Patriot-Raketen bestehe.
Wie seit letztem Dienstag bekannt, ist dies eine von den USA ungehörte polnische Forderung. Die neue US-Regierung erklärte öffentlich, dass die Patriot-Raketen ohne Sprengköpfe in dem osteuropäischen NATO-Staat stationiert werden. Gleichzeitig betonte die Obama-Regierung vor dem Kongress noch einmal, dass die endgültige Entscheidung über das Raketenschutzschild noch nicht gefallen sei.
Und dies ist bisher die wahrscheinlich eindeutigste Aussage, welche die USA bezüglich des Raketenschutzschilds seit dem Amtsantritt Obamas gemacht haben. Denn auch wenn die Anzeichen momentan gegen die Raketenabwehr in Osteuropa sprechen, die gegenteilige Option hält sich Barack Obama ebenfalls noch offen. Wie die Gazeta Wyborcza bereits am 11. April berichtete, werden die Bauarbeiten an der Raketenbasis in der Nähe von Slupsk fleißig fortgeführt – trotz des „Change“ in Washington.