Politisches Versteckspiel
Die EU führt zu organisierter Verantwortungslosigkeit in den Parteien
Eine gemeinsame Studie von Wissenschaftlern an der Bochumer Ruhr-Universität, der schwedischen Umeå Universitet und der britischen Keele University ergab, dass die Kombination von national organisierten Parteien mit Entscheidungen auf europäischer Ebene zur Verschleierung von Verantwortung führt.
Die Studie1 des Politikwissenschaftlers Thomas Poguntke von der Bochumer Ruhr-Universität und seinen Kollegen Robert Ladrech und Kurt Richard Luther von der britischen Keele University sowie Nicholas Aylott von der schwedischen Umeå Universitet wurde in zwei Stufen durchgeführt: Die erste Stufe umfasste Fallstudien in sechs EU-Ländern - Österreich, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien und Schweden. Dabei wurden Statuten, Regeln und Archivmaterial der Parteien ausgewertet und 150 Parteipolitiker und Funktionäre befragt. In der zweiten Stufe wurde ein standardisierter Fragenkatalog an Politiker und Funktionäre in die 15 Staaten versandt, die vor 2004 EU-Mitglieder waren.
Laut der Studie waren die nationalen politischen Parteien im allgemeinen nicht zu einer "Europäisierung" bereit und behandelten EU-Fragen wie Außenpolitik. Dies hängt eng damit zusammen, dass Wahlen meist von innenpolitischen Fragen bestimmt werden und EU-Entscheidungen weniger als von den Parteien initiierte und kontrollierte Prozesse, sondern als übermächtige, quasi-göttliche, Entscheidungen von außen präsentiert werden, gegen die sich nichts machen lässt. Diese Abtrennung der Entscheidungen auf EU-Ebene gibt einigen wenigen Politikern wie dem Bertelsmann-Lobbyisten Elmar Brok und dem Patentanwalt Klaus-Peter Lehne bemerkenswert viel Spielraum.
Das mit Abstand interessanteste Ergebnis der nun erschienenen Studie ist, dass die Entscheidungsträger auf EU-Ebene kaum für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden. Es deckt sich mit zahlreichen Beobachtungen, die bei der Formulierung und Verabschiedung von Initiativen zu Softwarepatenten, Vorratsdatenspeicherung und Monopolrechten gemacht werden können.
Auf lokaler und nationaler Ebene wetterten Politiker wie Jörg Tauss (SPD) oder Martin Mayer (CSU) gegen die Exzesse der EU, während auf EU-Ebene Günther Verheugen (SPD) oder Hans-Joachim Würmeling (CSU) die problematischen Vorschriften erst initiierten und verschärften. Brigitte Zypries versuchte sich sogar an dem Kunststück, die durch ihr eigenes Wirken maßgeblich verschärfte EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf einer Pressekonferenz als Zwang von außen darzustellen, gegen den sie ja gekämpft habe, so lange es ging.
Dabei ist die Umsetzung der selbst initiierten Richtlinien oft noch härter als es die europäischen Vorschriften eigentlich verlangen würden - wie etwa die der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in Frankreich oder der deutschen Urheberrechtsnovelle (mit gravierenden zusätzlichen Einschränkungen für Verbraucher, die in der EU-Urheberrechtslinie gar nicht vorgesehen waren). Beim Wähler hinterlässt dieses Verwirrspiel weitgehende Unklarheit darüber, welche Parteien für welche Inhalte stehen. Im für sie günstigsten Fall wird ihnen die Rolle des auf nationaler Ebene gegen die Brüsseler Bürokratie kämpfenden Verbraucheranwalts abgenommen, im für sie weniger günstigen Fall durchschaut der Wähler das Spiel.
Es gibt allerdings auch Ausnahmen, wie die Scottish National Party (SNP), die immer wieder europäische Politik in den Mittelpunkt stellte und deren Europaabgeordnete Neil MacCormick und Alyn Smith sich im Kampf gegen Softwarepatente einen Namen machten. Bei den heutigen Wahlen zum schottischen Parlament hat die SNP gute Chancen, erstmals stärkste Kraft zu werden und 2010 ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands abhalten zu können.