Populist ohne Pöbel

"Ich hörte, wir haben die beste Mortalitätsrate." Donald Trump bei Fox News Sunday mit Chris Wallace. Sendung, am 19. Juli 2020. Bild: Screenshot, Fox/YouTube

Donald Trump betreibt Telefonmarketing - Covid-19 zieht die Strippen

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Donald Trumps Wahlkampf, dies wird zunehmend deutlich, ist mit systematischen Problemen konfrontiert. Dies nicht nur aufgrund inhärenter Schwächen des Produktes selbst, denn die Vermarktbarkeit von Donald Trump dürfte selbst hartgesottenste PR-Manager auf der Suche nach einem zukunftsträchtigen Markenimage um den Schlaf bringen.

Trumps Wahlkampf hat ein systematisches Problem, weil die bisher erfolgsträchtigste Verkaufsform, welche für eine massenhafte Abnahme des Produktes Trump bei den Wählern gesorgt hatte, im Wahlkampf 2020 nicht zur Verfügung steht: die videogerecht inszenierte Wahlkampfveranstaltung vor einem hysterisierten Publikum.

Noch im Juni schienen die Dinge anders: Damals war das für ein Wahlkampfspektakel in Tulsa im Bundesstaat Oklahoma angekündigte "Comeback" des Präsidenten nach der coronabedingten Zwangspause noch nicht fehlgeschlagen. Doch das vermeintliche Großereignis war ein fulminanter Reinfall, weil das Publikum, nicht zuletzt aus Angst vor dem Coronavirus, nicht in hinreichend großer Zahl euphorisierter Claqueure erschienen war.

Trump bei der Telefonakquise

Covid-19, nicht Joe Biden, dies ist mittlerweile deutlich, ist Trumps wirklicher Gegner im Kampf um die nächste Präsidentschaft. Covid-19 beugt sich nicht den Versuchen des Präsidenten, die Realität rhetorisch zu manipulieren. Das Coronavirus verbreitet sich in den USA selbst im Hochsommer, der Nebensaison solcher Infektionskrankheiten, vehement weiter, ganz egal was der Präsident sagt, und straft ihn damit täglich Lügen.

Ein zunehmend angespannt wirkender Trump erklärt zwar immer wieder, dass das Coronavirus verschwinden werde und seine Regierung eine großartige Leistung in der Pandemiebekämpfung erbracht habe. Doch verschwunden ist bislang nur Trumps Nimbus, er sei gegen sämtliche widrigen Umstände resistent: Selbst seinen eigenen Wahlkampf hat Trump nicht mehr unter Kontrolle. Aufgrund der Infektionsgefahr finden Trumps Wahlkampfveranstaltungen vorerst per Telefon statt.

Einen Eindruck vom Telefonwahlkampf in Pandemiezeiten konnten sich nun die Wähler in Wisconsin und Arizona machen. In diesen Bundesstaaten fanden die ersten beiden solchen Wahlkampfveranstaltungen statt, die von Trumps Team blumig als "TELE-Rally" bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um nichts anderes als um Telefongespräche des Präsidenten, in welche sich seine Unterstützer einwählen können.

Selbstverständlich arbeitete Trump während dieser Telefonate die Serie seiner aktuellen Gesprächspunkte ab. Doch die Audioübertragungen, die 23 und 26 Minuten dauerten, hatten eher den analogen Charme von Radiosendungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs als die emotionale Infektiosität sorgfältig orchestrierter, digital verstärkter Medien-Events.

Das Coronavirus bedroht Trumps Geschäftsmodell

Diese Entwicklung ist für den noch-amtierenden Präsidenten eine Katastrophe. Denn mit der pandemiebedingten Relegierung an den Telefonhörer ist sein Geschäftsmodell bedroht. Nirgendwo manifestierte sich das Prinzip Trump deutlicher als in den aufgeheizten Massenveranstaltungen in großen Arenen. Trump im Spotlight, markige Worte am Podest, die Nationalflagge im Hintergrund, schmissige Rocksounds, das Bad in der Menge - vorerst nicht mehr im Jahr 2020.

"Der massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen. In den großen Festaufzügen, den Monsterversammlungen, in den Massenveranstaltungen sportlicher Art und im Krieg, die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht." Donald Trump, der Walter Benjamin, von dem diese Sätze stammen (Benjamin 1939, Fußnote 32), vermutlich nicht gelesen hat, sitzt in der Tinte.

Trump ist nicht mehr Trump, solange er seine Anhänger in Live-Events, die in Echtzeit dem Medienapparat zugeführt werden, nicht mehr erreichen kann. Die Massen derjenigen, auf deren blinde Unterstützung er angewiesen ist, werden nicht mehr medial reproduziert, solange sie sich nicht versammeln können. Damit verflüchtigt sich ein Teil des Markenkerns von Trump: das Image des charismatischen Führers, der sich auf die bedingungslose Treue seiner jubelnden Gefolgschaft verlassen kann.

Walter Benjamin stellte fest, das Kunstwerk habe sich von seinen Ursprüngen gelöst. An die Stelle kultischer Veranstaltungen sei, bedingt durch die technische Vervielfältigung, die Ausstellung getreten. Deswegen sei die "Aura" des Kunstwerkes verkümmert.

Analog lässt sich zum Wahlkampf 2020 feststellen: Wenn selbst die kultischen Medien-Events mit ihrer wie auch immer gearteten Restsubstanz wegfallen, dann bleibt von Trumps "Aura" über kurz oder lang nichts mehr übrig.

Was vom Präsidenten übrig bleibt

Was von Donald Trump übrig bleibt, wenn ihm das Live-Publikum abhanden kommt, war am Wochenende während eines Interviews auf dem Nachrichtenkanal Fox News, seinem Lieblingssender, eindrucksvoll zu beobachten: ein schwitzender alter Mann in der Defensive.

Auf den Hinweis des Journalisten Chris Wallace, dass die USA in der Pandemie eine der höchsten Mortalitätsraten der Welt hätten, erklärte Trump trotzig:

Ich denke, wir haben eine der niedrigsten Sterblichkeitsraten der Welt.

Donald Trump

Laut den jüngsten Umfragen von Washington Post / ABC News führt der demokratische Herausforderer Joe Biden gegenüber Trump auf nationaler Ebene derzeit zweistellig mit 55 zu 40 Prozent.

Noch im März waren beide fast gleichauf. Doch seit Anfang April geht die Schere zwischen den Präsidentschaftskandidaten immer weiter auseinander. Selbst in mehreren der stark umkämpften Bundesstaaten zeigen Umfragen den Demokraten Biden deutlich im Vorteil.

Mit den Mitteln des Telefonwahlkampfs wird es Trumps Team kaum gelingen, das Image des Kultführers wiederherzustellen. Nachdem nun auch noch die rituellen Wahlkampf-Aufführungen wegfallen, die den Protagonisten nach innen zur narzisstischen Selbstbestätigung und nach außen zur Machtprojektion dienten, droht dem Event-Präsidenten die Initiative zu entgleiten.

Doch genau danach sieht es derzeit aus. Am 13. Oktober 2016 beendete Donald Trump eine seiner Wahlkampf-Reden mit den Worten: "Gibt es einen besseren Ort auf der Welt oder einen sichereren Ort als eine Trump-Rallye?" Knapp vier Jahre später und eine Pandemie weiter, ist selbst Trump zu dem Eingeständnis gezwungen: Ja.

Dr. habil. Thomas Schuster, ehem. Berater bei Roland Berger und ehem. Autor der Frankfurter Allgemeine ist Hochschullehrer für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Seine Bücher "Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit" und "Die Geldfalle. Wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen" sind bei S. Fischer und im Rowohlt Verlag erschienen.