Post-Covid- und Fatigue-Syndrom: Was Sie zu diesen Krankheitsbildern wissen sollten
Seite 2: Myalgische Enzephalomyelits / Chronisches Fatigue-Syndrom
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Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf eine umfangreiche Veröffentlichung von der Arbeitsgruppe um Carmen Scheibenbogen, die im Mai 2023 im Deutschen Ärzteblatt erschienen ist und in der die bei ME/CFS auftretende Symptomatik detailliert geschildert wird.7
Dort wird ausgeführt, dass ME/CFS eine komplexe und chronische Erkrankung mit noch unvollständig geklärter Ursache ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert sie als neurologische Erkrankung.
Auslöser sind meistens Infektionskrankheiten wie das häufige und harmlose Pfeiffersche Drüsenfieber, verursacht durch das Epstein-Barr-Virus, aber auch Influenza oder eine Infektion mit Sars-CoV-2, die durch die Pandemie weltweit zum häufigsten Trigger geworden ist. Deshalb gehört ME/CFS auch zum Spektrum des Post-Covid-Syndroms (PCS).
Aber auch andere Erkrankungen wie Magen-Darm-Infektionen, Reaktivierungen von Herpes simplex und bakterielle Infektionen bis hin zu einem HWS-Trauma und Operationen können Auslöser von ME/CFS sein.8
Symptomatologie
Typische Symptome der oft schwer kranken Patienten sind wie bei PCS (siehe oben) eine ausgeprägte Fatigue, Schmerzen in den Extremitäten, neurokognitive Einschränkungen sowie Schlaf- und Kreislaufstörungen, die eine interdisziplinäre Diagnostik und eine multiprofessionelle Versorgung erfordern.
Charakteristisches Hauptsymptom ist eine ausgeprägte Belastungsintoleranz mit einer versetzt auftretenden und lange anhaltenden Verschlechterung aller Symptome (die Betroffenen sprechen von einem "Crash") nach Alltagsaktivitäten, die sogenannte post-exertionelle Malaise (PEM).
Die namensgebende Fatigue beeinträchtigt den Alltag, bessert sich kaum durch Ausruhen und geht oft mit einer muskulären Schwäche einher.
Schmerzen sind variabel ausgeprägt, mit Muskel-, Kopf- und seltener Gelenkschmerzen. Manche Patienten haben generalisierte Schmerzen wie bei einer Fibromyalgie.
Bei den Konzentrations- und Gedächtnisproblemen stehen Wortfindungsstörungen, Verlangsamung im Denken ("Gedächtnisnebel", brain-fog) und die Unfähigkeit, sich länger zu konzentrieren, im Vordergrund.
Häufig bestehen Symptome einer vegetativ-autonomen Dysfunktion, die sich als orthostatische Intoleranz (OI) mit Schwindel beim Aufrichten, Tachykardie, Atembeschwerden, Mundtrockenheit, Temperaturempfindlichkeit, Reizdarm oder Reizblase äußern können.
Epidemiologie
Nach einer Studie des Bundesministeriums für Gesundheit ging man 1993 von einer Prävalenz (Häufigkeitsanteil in der Bevölkerung) der ME/CFS von 0,3 Prozent in Deutschland aus.
Eine aktuelle Studie aus Deutschland, die fast 30 Millionen Versicherte der Krankenkassen ausgewertet hat, zeigt für 2020 eine Inzidenz von 0,2 Prozent für Versicherte ohne und 0,6 Prozent mit vorausgegangener Covid-19.9
ME/CFS ist relativ weitverbreitet und keine seltene Erkrankung. In Deutschland leiden nach (präpandemischen) Schätzungen etwa 250.000 Menschen an ME/CFS. Wenn man also davon ausgeht, dass die Zahl der Erkrankten sich durch die Covid-19-Pandemie verdreifacht hat, kann man derzeit von mindestens 500.000 Betroffenen ausgehen.
Betroffen sind vor allem jüngere Menschen im Alter zwischen 10 und 50 Jahren, darunter dreimal mehr Frauen als Männer.
Diagnostik
Die Diagnose ME/CFS ist schwierig zu stellen, weil es bis heute keinen spezifischen diagnostischen Labormarker oder charakteristische Befunde von bildgebenden Verfahren gibt. Deshalb kann die Diagnose nur aufgrund der Bewertung der Symptome (siehe oben) gestellt und muss interdisziplinär abgeklärt werden.10
Dabei kommt dem Auftreten von PEM als Leitsymptom der Erkrankung eine besondere Bedeutung zu.
Bei Patienten mit OI (siehe oben) kann dann häufig ein POTS (Posturales Orthostatisches Tachykardie-Syndrom) mit einem einfachen Schellong-Test nachgewiesen werden.
Bis zur Etablierung eines überzeugenden diagnostischen Markers bleibt aber auch ME/CFS eine Diagnose, die nur gestellt werden kann, wenn alle Erkrankungen, die bekanntermaßen mit einer Fatigue einhergehen, ausgeschlossen worden sind.
Prognose und Therapie von PCS und ME/CFS
Menschen mit PCS, die ein halbes Jahr nach ihrer Corona-Infektion an einer krankhaften Erschöpfung, der Fatigue, leiden, sind oft nach bis zu 20 Monaten noch stark beeinträchtigt. Das zeigt eine aktuelle Studie der Charité-Universitätsmedizin Berlin und des Max Delbrück Centers.
Betroffene, die ME/CFS entwickeln, sind in den allermeisten Fällen unverändert schwer krank. Patienten mit ähnlichen Symptomen, die die Diagnosekriterien für ME/CFS nicht erfüllen, erleben dagegen eine langsame Verbesserung ihrer Beschwerden.
Da es sich um eine Multisystemerkrankung handelt, sind die sozialmedizinischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des PCS bisher nicht absehbar. Sie dürften aber immens sein.11
Denn unter den Patientinnen und Patienten mit ME/CFS finden sich Schwerbetroffene mit erheblich eingeschränkter bis aufgehobener beruflicher Leistungsfähigkeit bis hin zu Schwerstbetroffenen, die bettlägerig sind, einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 aufweisen und einen Pflegegrad 4 oder 5.12
Was die Therapie betrifft, so existieren derzeit keine evidenzbasierten kausalen spezifischen Behandlungsmöglichkeiten, da die Ursachen der hier zur Rede stehenden Erkrankungen nicht geklärt sind.13
Aktuelle Therapiekonzepte stützen sich auf einen pragmatischen Ansatz, der Maßnahmen der physikalischen Rehabilitation mit einer symptomorientierten Therapie der unterschiedlichen Organstörungen einschließt.
Die gezielte Therapie von Komorbiditäten (siehe oben) trägt zur Symptomreduktion bei und verbessert die Lebensqualität der Betroffenen.
Im Fall von ME/CFS (mit Vorliegen eines PEM) müssen alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen auf die individuell oft erheblich eingeschränkte Belastbarkeit ausgerichtet werden. Ein "Pacing", d. h. ein schonender, dosierter und an die Belastbarkeit des Patienten angepasster Umgang mit seinen Energiereserven ist dabei zu empfehlen.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de