Proteste im Iran: Warum es um mehr als um das Kopftuch geht

Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten in Teheran. Bild: Darafsh, CC BY-SA 4.0

Die Demonstrationen sind Ausdruck der gesellschaftlichen Spaltung des Landes. Auch prominente Iraner stellen sich hinter die Anliegen. Doch die Protestbewegung hat ein zentrales Problem.

Reza Pahlavi ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Der Sturz des Regimes im Iran stehe kurz bevor, prophezeit der Sohn des letzten Schahs im Gespräch mit Journalisten wieder, und gibt sich ganz staatsmännisch: Nein, eine Rückkehr zur Monarchie stelle er sich nicht vor; eine verfassungsgebende Versammlung solle über das künftige Regierungssystem des Iran entscheiden, aber in jedem Fall sollten Frauen selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht.

Doch dass er trotz seiner prominenten Herkunft irgendwann eine Rolle in der iranischen Politik spielen könnte, ist ausgesprochen unwahrscheinlich. Bei im Ausland lebenden Iranern mag er bekannt und beliebt sein. Doch im Iran selbst stößt er auch bei Gegnern des Regimes auf wenig Gegenliebe.

Die Monarchie lehne man ab; man kenne die Geschichten der Großeltern über die Lebensbedingungen unter dem letzten Schah, schreiben jene Kontakte im Iran, die sich trotz der Gefahr in den vergangenen Tagen noch äußern wollten.

Und außerdem, fragen diese Leute übereinstimmend: Seine royale Herkunft gebe ihm nicht das Recht, darüber mitentscheiden zu dürfen, wie ein Iran nach der islamischen Republik aussehen könnte.

Aber: Ein Konzept hat auch im Iran niemand. Die Proteste, die sich nun seit ungefähr zwei Wochen in vielen Landesteilen abspielen, sind unorganisiert, haben keine Anführer. Vereint sind sie im Streben nach mehr Freiheit, und das Kopftuch, mit dem alles begann, als Mahsa Amini starb, nachdem sie von der Sittenpolizei wegen ein paar sichtbaren Haarsträhnen festgesetzt worden war, ist zum Symbol dafür geworden.

76 Menschen sind nach offiziellen Angaben bisher getötet worden. Tausende dürften wohl verhaftet worden sein. Ihnen drohen nun Todesstrafe, Auspeitschung oder lange Haftstrafen.

Protestserien gibt es im Iran schon seit Jahren immer wieder. Oft sind es Studenten, die in den Städten für mehr Freiheit demonstrieren, bevor die Proteste mit Waffen und Verhaftungen niedergeschlagen werden. Meist jedoch sind es Leute, die für bestimmte Anliegen auf die Straße gehen: höhere Löhne, Wasserversorgung, Subventionen für Nahrungsmittel.

Doch dieses Mal ist einiges anders. Zunächst einmal finden die Proteste nicht nur auf der Straße statt, sondern in den auch im Iran beliebten sozialen Netzwerken: Frauen posteten Videos von sich, wie sie sich das Kopftuch abnahmen; einige schnitten sich auch vor laufender Kamera die Haare ab. Die Behörden schätzten die Macht dieser Bilder als so hoch ein, dass sie nicht nur, wie sonst, den Zugang zu Webseiten und sozialen Netzwerken blockierten, sondern den Zugang zum Internet gleich vollständig stark einschränkten.

Keine Nachricht ist im Iran auch eine Nachricht

Doch die Zustimmung und Unterstützung hat das nicht nur nicht gebrochen, sondern sogar verstärkt: Schauspieler, Sportler, Moderatoren und weitere Prominente haben sich hinter die Demonstrierenden gestellt; beim Freundschaftsspiel gegen den Senegal lief die iranische Mannschaft mit schwarzen Jacken auf, die das Nationalsymbol verdeckten und damit Anlass für Mutmaßungen gab: Wollte die Mannschaft damit ihre Solidarität zum Ausdruck bringen?

Keiner der Spieler hat bis heute irgendetwas gesagt oder getan, dass diese Vermutung widerlegt. Aus gutem Grund: Auch Prominenz schützt in diesen Tagen nicht vor Festnahme. Und im Iran ist auch keine Nachricht eine Nachricht.

Tatsache ist, dass es bei den Protesten längst nicht mehr allein um die Rechte der Frauen geht, denn es sind nicht nur Frauen, die gegängelt werden. Der Staat versucht, in jeden Lebensbereich einzudringen, ihn nach den eigenen Vorstellungen zu regeln.

Betroffen sind davon alle, die sich ein anderes Leben wünschen, als jene Vorstellungen, wie sie im konservativen Teil der Bevölkerung vorherrschen. Ausrasierte Seiten, also ein sogenannter Boxerschnitt, oder gezupfte Augenbrauen können bei Fußballspielern zur Vorladung beim Fußballverband und zu Spielverboten führen.

Er fühle sich wie ein Kind, dessen Eltern das Kinderzimmer so eingerichtet haben, wie ihres früher war, sagte ein Fußballspieler im vergangenen Jahr.

Die "Eltern", das sind in diesem Fall Kleriker, die nur in ihren eigenen Kreisen verkehren, und gleichzeitig Politiker, Justiz, Wächter und Ausführende in einem sein sollen. Die Gedankenwelt dieser Männer lebt in konservativen religiösen Seminaren, wo sie an die Nachkommenden, oft die Söhne der alternden Kleriker, weitergegeben wird und sich dabei nie erneuert.

Die "Eltern" sind aber auch jener sehr konservative Anteil der Bevölkerung auf dem Land, die das Konzept der Islamischen Revolution weiterhin unterstützt.

Wo der Graben in der Gesellschaft verläuft, konnte man während der Präsidentschaftswahl im vergangenen Sommer sehen. Die Kandidaten waren vom Wächterrat, der jeden Kandidaten für ein öffentliches Amt überprüft, streng ausgesiebt worden; übrig blieben nur konservative und sehr konservative Kandidaten, mit Ebrahim Raeisi als aussichtsreichster Bewerber.

In sozialen Netzwerken war deshalb zum Wahlboykott aufgerufen worden, und viele machten mit. Diejenigen, die zur Wahl gingen, mussten schon sehr überzeugt von Raeisi sein, denn der amtierende Chef der Justiz hatte in den Achtzigerjahren als Richter mehrere tausend Todesurteile gegen Regimegegner verhängt und wurde deshalb im Westen mit persönlichen Sanktionen belegt. 48,48 Prozent der Wähler gingen damals zur Wahl; 72,35 Prozent davon stimmten für Raeisi.

Doch das wirklich miserable Wahlergebnis, der darin manifestierte Mangel an Zustimmung hält Raeisi nicht davon ab, zuallererst mit größtmöglichem Nachdruck alles zu tun, um seine Vorstellungen allen im Lande aufzudrücken.

Mehr Geld und Personal für die Sittenpolizei

Die Sittenpolizei wurde mit zusätzlichem Personal und Geld ausgestattet, die Strafen für Zuwiderhandlungen wurden verschärft. Gleichzeitig blieb alles liegen, was mit dem politischen Tagesgeschäft zu tun hat und das aus ganz praktischen Gründen: Raeisi und sein Team verfügen schlicht über keine Expertise für die oft schwierigen Themen.

In einigen Regionen herrscht drastische Energieknappheit. Die Inflation ist hoch, die Lebenshaltungskosten sind es ebenfalls. Die amerikanischen Sanktionen seien schuld, antworten Raeisis Leute darauf.

Doch tatsächlich war die Krise schon da, als noch der Reformer Hassan Ruhani regierte und das Atomabkommen noch völlig intakt war: Damals waren es Privatisierungsmaßnahmen, ein Abbau von Nahrungsmittelsubventionen und Sozialleistungen, die die Krise auslösten. Raeisi, der im Wahlkampf versprochen hatte, alles besser zu machen, hat einfach nur keine Lösung dafür.

Eine Situation, die der aktuellen Lage im Land eine weitere Komponente hinzufügt: Auch in konservativen Bevölkerungsschichten, die eigentlich das Konzept der Islamischen Revolution unterstützen, ist der Unmut nun massiv. Bevor Frauen begannen, auf die Straße zu gehen, gab es bereits Proteste gegen Wassermangel, Lebenshaltungskosten, Arbeitsbedingungen. Nun kommt alles zusammen. Und schon bald könnte ein weiterer Faktor hinzukommen: der Ajatollah.

Er vereint zwar eine immense Macht auf sich, hat aber vor allem die Rolle des Identifikators und Richtungsweisenden; aus der Tagespolitik hält sich Khamenei meist heraus. Doch diese Führungsrolle füllt der 83-Jährige immer weniger aus: Bei öffentlichen Auftritten sieht man ihm das Alter immer deutlicher an; auf die Probleme der Menschen hat er keine Antworten außer den üblichen Anschuldigungen gegen Israel und die Vereinigten Staaten.

Irgendwann in den kommenden Jahren wird Khamenei entweder sterben oder abtreten müssen. Und ein klarer Nachfolger, mit dem sich alle Menschen im Land identifizieren könnten, ist weit und breit nicht in Sicht.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Revolutionsgarden, die das System mit ihren Waffen stützen, mehrfach deutlich gemacht haben, dass sie nur einen konservativen Nachfolger akzeptieren werden.

Damit würden die gesellschaftlichen Spaltungen aber nur noch weiter verstärkt. Man wird nicht auf Dauer das Internet abschalten können, und die Sanktionen und der Mangel an Reformen in Politik, Justiz und Verwaltung werden wohl ihr Übriges tun.

Dass die fünf ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats und Deutschland allesamt ein weiteres, überarbeitetes Atomabkommen mit dem Iran unterzeichnen, erscheint im Angesicht der Proteste als unwahrscheinlich. Zu viele Politiker haben sich nun gegen die iranische Führung in Stellung gebracht, sich gar für einen Regime-Wechsel ausgesprochen.

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