Pulverfass Südafrika

Fünfzehn Jahre nach dem Ende der Apartheid fordert die Masse der ANC-Anhänger die Einlösung der sozialen Versprechen, doch der neue Staatspräsident Jacob Zuma kann sich an nichts erinnern

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Südafrika erlebt einen heißen Winter. Nicht in meteorologischer, sondern in sozialer und politischer Hinsicht. Ein Streik folgt dem nächsten. Ärzte, Bauarbeiter, Staatsangestellte, Bergleute, Telekom-Beschäftigte, Energieerzeuger und Medienarbeiter des öffentlich-rechtlichen SABC fordern mehr Geld und soziale Absicherung. Zugleich wächst die Wut in den schwarzen Townships. Von der „Rebellion der Vergessenen“ sprach die Londoner Financial Times am 28.Juli. Eine Rebellion, die sich anders als vor einem Jahr dieses Mal nicht gegen Flüchtlinge und Arbeitsimmigranten aus Zimbabwe, sondern gegen die eigene Obrigkeit richtet, die mit Gummigeschossen antwortet.

Sprachen in Südafrika

Eineinhalb Dekaden nach dem Ende des rassistischen Apartheidsystems und der Geburt des „neuen Südafrikas“ fordern die Habenichtse ihren Anteil am Reichtum eines nicht eben armen Landes. „Ist Zahltag?“, fragte sich das britische Wirtschaftsmagazin The Economist am 11.Juni 2009 und stellte fest:

Die Spannungen zwischen dem Gewerkschaftsbund (COSATU und der Regierung schlagen hoch. Hoch genug, um Mister Zuma dazu zu zwingen von seiner erklärtermaßen marktfreundlichen makroökonomischen Politik abzuweichen? Darauf warten nun alle gespannt.

Tatsächlich hat Zuma weiteres Öl ins Feuer gegossen und einen „Linksruck“ in der Wirtschaft kategorisch abgelehnt. Nachdem er vor seiner Wahl im Mai den Linkspopulisten gab und mit der Kommunistischen Partei und den Gewerkschaften kokettierte, erklärt er nun: „Ich schulde niemandem etwas.“ Eine Position, die er zuletzt am 11.August im Metro FM Radio bekräftigte Für COSATU-Generalsekretär Zwelinzima Vavi ist das eine „Kriegserklärung“. Sollte die Regierung den bisherigen Kurs weiterverfolgen, werde sie eine „explosive Welle unkontrollierbarer Arbeiterunruhen im ganzen Land“ erleben.

Streiks allerorten

Der Hauptgrund der aktuellen Streikwelle ist die hohe Inflation. Die Preise für Lebensmittel sind in den letzten Monaten um 14,9 Prozent gestiegen. Der Energiekonzern Eskom plant, aufgrund knapper Kapazitäten, gar eine Erhöhung der Strompreise um 31,3 Prozent. Solche Kaufkraftverluste erzeugen spontane Reaktionen. Schließlich verdiente ein Maurer auf den WM-Baustellen bislang gerade mal 2.500 Rand. Das sind umgerechnet 227 Euro. Allein die Fahrt zur Arbeit verschlingt jeden Monat 400 Rand. Die Miete für ein kleines Haus im Township Soweto beträgt 1.200 Rand.

Doch alle Arbeitsniederlegungen der letzten Wochen haben rasch einen politischen Charakter angenommen. Niemand hat nämlich vergessen, dass sich der mit schweren Korruptionsvorwürfen und einem Gerichtsverfahren wegen Vergewaltigung konfrontierte Kandidat Zuma im Dezember 2008 nur deshalb gegen den amtierenden ANC-Vorsitzenden und Staatschef Thabo Mbeki durchsetzen und im Mai die Präsidentschaftswahlen souverän gewinnen konnte, weil er mit einem betont sozialen Programm und dem Versprechen einer Verteilung der Früchte der 17jährigen ununterbrochenen Prosperitätsphase angetreten war und um die Unterstützung der KP und des Gewerkschaftsbundes COSATU geworben hatte. Beide Organisationen bilden zusammen mit dem ANC die noch aus dem Untergrundkampf resultierende Dreierallianz. Nach Schätzungen unabhängiger Beobachter, wie der linksliberalen Wochenzeitung Mail & Guardian, investierte COSATU mindestens eine Million Euro in Zumas Wahlkampf und stellte ihm unentgeltlich etliche tausend Helfer zur Verfügung. Dafür möchte man nun greifbare Ergebnisse für die Masse der Beschäftigten sehen und nicht nur ein paar gut dotierte Ministersessel für ausgediente Funktionäre wie Arbeitsminister Membathisi Mdladlana, den Minister für Wirtschaftliche Entwicklung Ebrahim Patel oder den Vizepräsidenten Kgalema Motlanthe.

Die Lohnstreiks, die ANC-Generalsekretär Gwede Mantashe als „nicht hilfreich“ bezeichnete, haben bislang nur zum Inflationsausgleich gereicht. Die 70.000 Bauarbeiter auf den Baustellen der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 erhielten Mitte Juli eine Lohnerhöhungen von 12 Prozent. Gefordert hatten sie 13 Prozent und daneben diverse soziale Absicherungen, wie einen Mindestlohn, bezahlten Elternurlaub und die Übernahme der Transportkosten für den Weg zur Arbeit. Laut Unternehmerverband hätte beides zusammen einer Lohnerhöhung von 65 Prozent entsprochen. Faktisch blieb der zweite Teil des Forderungskataloges komplett auf der Strecke, was eine politische Lösung zwingend macht und die Regierung zum Hauptkontrahenten.

Etwas besser schnitten die 150.000 Kommunalbeschäftigten ab, die sich ebenfalls massenhaft am einwöchigen Ausstand beteiligten. Ihre Gewerkschaft SAMWU konnte Gehaltserhöhungen um 13 Prozent durchsetzen. Gefordert hatte sie 15 Prozent. Die Journalisten und Techniker des SABC mussten sich dagegen, genau wie die Eskom-Arbeiter mit 10,5 Prozent mehr begnügen.

Brennende Townships

Während sich die Ordnungsmacht bei den Arbeitsniederlegungen einigermaßen zurückhielt, erinnerte die Szenerie bei den Protesten der Elendsviertelbewohner fatal an die bekannten Bilder der 70er und 80er Jahre als das weiße Apartheidregime einen offenen Krieg gegen die schwarze Bevölkerungsmehrheit führte, wann immer diese Widerstand leistete: Molotow-Cocktails, brennende Barrikaden und Polizeieinsätze mit gepanzerten Fahrzeugen, reichlich Tränengas und Gummigeschossen gehören auch jetzt wieder zum Alltag.

Hintergrund: Die offizielle Arbeitslosenrate beträgt aktuell 23,6 Prozent. Dem Ökonomen Chris Hart von Investment Solutions zufolge beläuft sich die reale Erwerbslosigkeit allerdings auf mehr als 30 Prozent, wenn man die „demoralisierten Jobsucher“ hinzurechnet, die angesichts der aussichtslosen Lage zur landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft zurückgekehrt sind oder eine triste Existenz als Straßenverkäufer und Tagelöhner außerhalb der Statistik fristeten (Mail & Guardian 12.8.2009). In den Genuss finanzieller Unterstützung kommen ohnehin nur 500.000 der 3,9 Millionen offiziellen Jobsucher. Für das laufende Jahr erwarten Ökonomen einen weiteren Nettoverlust von mindestens 250.000 Arbeitsplätzen. Die Industrieproduktion fiel im Juni um 17,1 Prozent und damit genauso stark wie im Mai. Bereits jetzt lebt jedoch die Hälfte der Privathaushalte an oder unter der Armutsgrenze. Der Mindestlohn für LKW-Fahrer beträgt bei einer Arbeitszeit von 45 Stunden ganze 884 Rand (68,65 Euro) pro Woche. Lagerarbeiter kommen sogar nur auf einen Wochenlohn von 580 Rand (45 Euro). Umgekehrt verfügt das oberste Zehntel der Bevölkerung über das hundertfache Einkommen des untersten Zehntels. Allein die beiden größten Bergbaumagnaten Patrice Motsepe (ARM) und Nicky Oppenheimer (De Beers) verfügen über ein Privatvermögen von 1,3 bzw. 5 Milliarden Dollar und 5 Milliarden Dollar.

Verglichen mit ihrem Lebensstandard nehmen sich die Forderungen der Township-Bewohner dagegen äußerst bescheiden aus. Sie verlangen nur den Anschluss an die Wasser-, Abwasser- und Stromversorgung, eine geregelte Müllabfuhr und sozialen Wohnungsbau, um irgendwann die Wellblechhütten hinter sich zu lassen. Dass sich an dieser Misere trotz hochtrabender Zukunftsprogramme faktisch nichts geändert hat und inzwischen selbst die von ihnen gewählten ANC-Stadträte nicht mehr für ihre Sorgen, sondern nur noch für die eigenen Privilegien interessieren, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. „Für mich ist das eine Beleidigung und zeigt einen Mangel an Respekt“, sagt Bongani Santos (33), ein Mitglied der ANC-Jugendliga und Bewohner des Johannesburger Townships Thokoza. „Die Leute denken, dass Rebellieren der einzige Weg ist, um auf sich aufmerksam zu machen.“ (Financial Times 28.7.2009)

Die wichtigste Regierungspartei fährt angesichts dessen zweigleisig: Einerseits setzt sie auf die Kriminalisierung der Proteste, hinter denen eine mysteriöse „dritte Kraft“ stecke. (Eine absurde Anspielung auf rechtsradikale paramilitärische Gruppen, die während der Übergangsperiode Mitte der 90er Jahre gewaltsame Zusammenstöße provozierten.) Andererseits kommen in den letzten Wochen des Öfteren mal ANC-Minister zu Besuch und versprechen nach altbekannter Art die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie eine Verbesserung der Infrastruktur.

Es wird sich zeigen, ob die Leute diesen Aussagen vertrauen oder die Streiks und Proteste fortsetzen.

... meint der Kolumnist und Dokumentarfilmer Max du Preez (58), der wegen seines Widerstandes gegen das Burenregime zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt und auf dessen Zeitungsredaktion 1991 vom südafrikanischen Geheimdienst CCB ein Bombenanschlag verübt wurde.

Die Glaubwürdigkeit der Politiker hat nach fünfzehn Jahren nicht eingehaltener Versprechungen einen historischen Tiefstand erreicht und die Kluft zwischen den Armen und der Elite ist heute genauso groß wie während der Apartheid.

„Dies ist die letzte Chance für den ANC“, behauptet Evelyn, die Bewohnerin eines Shacks (einer Holz- und Wellblechbaracke) in Diepsloot, einem Township nördlich von Johannesburg, den die Regierung räumen will. „Ich will nicht in einen anderen Shack ziehen. Ich will ein Haus“, erklärte sie wenige Tage nach schweren Unruhen in ihrem Viertel der ausländischen Presse gegenüber entschlossen. (il manifesto 11.8.2009)

Patrick Bond (48), Professor an der KwaZulu-Natal University und einer der angesehensten Linksintellektuellen des Landes, zufolge gibt es trotz der zahlreichen sozialen Protestaktionen derzeit keine politische Alternative zum ANC.

Trotz verschiedentlicher Drohungen haben sich die Gewerkschaften und die Kommunistische Partei (SACP) am Ende immer dafür entschieden ihr Bündnis mit dem ANC aufrechtzuerhalten und es gibt kein Anzeichen dafür, dass sie nun zum Bruch bereit wären. Sie wollen einen gewissen Druck entfalten, der allerdings – so stark er auch sein mag – nur begrenzte Effekte hat.

„il manifesto“ 11.8.2009

Tatsächlich existiert gegenwärtig keine fortschrittliche Alternative zum ANC, die in der Lage wäre Druck zu entfalten. Die Azanische Volksorganisation (AZAPO), die in den 60er Jahren entstandene und vom 1977 in Polizeihaft zu Tode gefolterten Steve Biko geführte Schwarzen Bewusstseinsbewegung (BCM) hervorgeging, erhielt bei den Parlamentswahlen im Mai 2009 ganze 38.245 Stimmen und stagniert bei 0,22 Prozent. Der 1959 gegründete Pan Africanist Congress (PAC), im Befreiungskampf lange Zeit das radikalere Pendant zum ANC schnitt mit 48.530 Stimmen (0,27%) kaum besser ab. Er befindet sich im deutlichen Niedergang. Bei den ersten freien Wahlen 1994 hatte er noch eine Viertelmillion Stimmen bzw. 1,25 Prozent auf sich vereint.

Die sozialen Bewegungen, von denen sich viele Im Anti-Privatization Forum (APF) zusammengeschlossen haben, sind zwar sehr aktiv und in vielen Townships präsent, verfügen allerdings nicht über „die Fähigkeit die Proteste kanalisieren zu können“, wie Zodwa Madiba selbst eingesteht, der für das Operation Khanyisa Movement (OKM), einer mit Basisgruppen in Soweto verbundenen, linken Liste in den Johannesburger Stadtrat gewählt wurde.

Diese Führungslosigkeit der Township-Proteste birgt allerdings auch die Gefahr einer Neuauflage der fremdenfeindlichen Pogrome des vergangenen Jahres in sich, denen nach offizieller Zählung 62 Menschen (vor allem Leute aus Zimbabwe) zum Opfer fielen. Loren Landau, Professor an der Johannesburger Witwatersrand University und Leiter des Forced Migration Studies Programme http://migration.org.za/ und sein Team...

[...] sind allerdings der Ansicht, dass es mindestens 80 waren. Darüber hinaus gab es eine nicht kalkulierbare Zahl von Vergewaltigungen. Trotzdem wurde niemand wegen Mordes oder sexueller Gewalt vor Gericht gestellt. Die Anklagen gegen die an den Übergriffen Beteiligten sind geringfügiger Art, wie Diebstahl. Landfriedensbruch oder Anstiftung zu Unruhen. Das hat für ein weit verbreitetes Gefühl der Straffreiheit gesorgt, das neue Angriffe gegen Ausländer natürlich begünstigt. Faktisch haben die Übergriffe nie wirklich aufgehört. Sie gehen auf einem niedrigeren Niveau weiter und werden in den Polizeiberichten als normale Vorkommnisse behandelt.

Wie hatte COSATU-Sekretär Zwenzilima Vavi kürzlich gesagt?

Südafrika ist eine tickende Zeitbombe.