Putin-Russland 2023: Eine erschütterte Autokratie auf dem Weg zum totalitären System

Polizei geht gegen Demonstrierende bei einer Kundgebung zur Unterstützung der oppositionellen Kandidaten für die Abgeordneten der Moskauer Stadtduma vor, 27. Juli 2019. Bild: Ilya Varlamov / CC BY-SA 4.0 Deed

Führung geht repressiver im Land vor. Putins Macht wackelte durch Prigoschin und Haftbefehl, aber Sanktionen verpufften. Warum Umbrüche 2024 nicht zu erwarten sind.

Während im Jahresverlauf 2023 an der Front in der Ukraine trotz allerlei Offensivbemühungen beider Seiten weitgehend Stillstand herrschte, gab es in Russland selbst eine Menge von Veränderungen.

Diese waren ein Symptom für die innere Umgestaltung des Landes weg von einer Autokratie, in der außer aktiver Opposition vieles für die Bürger gefahrlos möglich war, hin zu einem totalitären System. Der Wechsel hatte 2022 erst langsam begonnen und nahm in diesem Jahr Fahrt auf.

Der Aufbau der "Russischen Welt"

Das System Putin wird dabei mehr und mehr definiert von einer wachsenden Ideologie, die von denjenigen, die sie vertreten, "Russische Welt" genannt wird. Sie ist ultrakonservativ, wenn nicht reaktionär mit Idealen in der Vergangenheit und antiwestlich ausgerichtet. Standbeine sind eine Ideologisierung des Bildungssystems, der Wissenschaft und – zumindest nach Wunsch der Mächtigen – der gesamten Gesellschaft.

Ob die Ideologisierung der Gesellschaft angesichts der großen Politikferne der meisten Russen je eintritt, ist ungewiss. Ein weiteres Ideal ist Autarkie, wie sie ihre Anhänger anstreben, ein "isoliertes, aufgepeitschtes Land", wie es etwa der oppositionelle Influencer Juri Dud bezeichnet.

Ein wesentliches Standbein der "Russischen Welt" ist, dass auch die Ukrainer und Weißrussen ungefragt Teil davon sind. Das bedeutet aber keine Wiedergeburt der Sowjetunion, vor allem nicht im ideologischen Sinne. Die UdSSR war ihrem Ideal nach in die Zukunft ausgerichtet, die Russische Welt beruft sich fast ausschließlich auf die Vergangenheit. Nur manche Erscheinungsformen des neuen Russland ähneln denen der Sowjetzeit, die ja Teil der russischen Geschichte ist.

Populäre Figuren, die sich zu weit außerhalb der Kreml-Vorgaben bewegt haben, wurden im Russland des Jahres 2023 zahlreich kalt gestellt, meist durch Inhaftierung oder Verurteilung. Etwa der frühere Gouverneur der Region Chabarowsk, Sergej Furgal, dessen Absetzung 2020 vor Ort Massenproteste ausgelöst hatte.

Er wurde im Februar zu 22 Jahren Haft verurteilt. Vorgeworfen wurde ihm ein Mordkomplott vor etwa 20 Jahren. Es gibt 2023 zahlreiche weitere Beispiele. Die Verhaftung des populären Bürgermeisters von Jekaterinburg Jewgeni Roismann, die Verurteilung des Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren, die neue Verurteilung von Alexej Nawalny zu weiteren 19 Jahren sind die prominentesten Fälle.

Prigoschins Aufstand und Niedergang

Die Figur, die die Nachrichten im Jahr 2023 am stärksten dominierte, war mit Ausnahme von Putin selbst jedoch ein anderer: Jewgeni Prigoschin sorgte für eine kurze, aber gewaltige Erschütterung des russischen Systems. In früheren Jahren gehörte er eher zu ihren schattenhaften Stützen. Er hatte sich vor allem als Chef der Trollfabrik in Sankt Petersburg, die in sozialen Netzen versuchte, im Sinne des Kremls Stimmung zu machen, und der russischen Söldnertruppe PMC Wagner einen Namen gemacht

Schon ab Januar 2023 erregte er auch Aufsehen mit Kritik an der politischen Führung, als er etwa Putins Präsidialverwaltung Verrat vorwarf. Seine Popularität erreichte nach der Eroberung der ukrainischen Stadt Bachmut Ende Mai, ermöglicht vor allem durch seine Söldnertruppe, einen neuen Höhepunkt. In diesem Zusammenhang geizte er weiter nicht mit öffentlicher Schelte an der Ausrüstung seiner Soldaten.

Am 24. Juni kam es dann zu einer Art politisch-militärischen Explosion rund um den Söldnerführer. Seine Truppen besetzten ein Armeehauptquartier in Rostow am Don und zogen los zu einem bewaffneten Marsch auf Moskau. Russland schien am Rande eines Bürgerkriegs zu stehen. Auf Vermittlung des belarussischen Staatschefs Lukaschenko kam es zu einem Kompromiss, als Prigoschins Wagner-Kämpfer etwa 360 Kilometer vor Moskau standen.

In den folgenden Monaten wurde Prigoschins Söldnertruppe als Basis seiner Macht entscheidend geschwächt. Prigoschins eigenes Ende ist bekannt. Im August stürzte er mit einem Flugzeug ab, womit wieder ein Glaubensstreit um die Ursache dieses rätselhaften Unglücks entstand.

Der Haftbefehl gegen Putin

Weitere Erschütterungen gab es ab März durch einen Haftbefehl gegen Putin persönlich wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof in den Haag. Durch diesen Haftbefehl ist es ihm nicht mehr möglich, in die Staaten zu reisen, die den Gerichtshof anerkennen. Das sind weltweit 123 Länder, darunter auch strategische Partner Russlands wie Südafrika und Tadschikistan und ab Februar 2024 Armenien.

Putins an sich geplante Reise zum Gipfel der verbündeten Brics-Staaten in Südafrika im Juli fiel dem Haftbefehl zum Opfer. Der Beitritt Armeniens zum Statut ging einher mit einem verlorenen Konflikt mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach, bei denen sich die Armenier vom früheren Verbündeten Moskau im Stich gelassen fühlten. Da Aserbaidschan immer mehr auf die Türkei als neuen Verbündeten setzt, war im Südkaukasus 2023 häufiger von einem Nachlassen des russischen Einflusses zugunsten der Türkei die Rede.