Putin, der Böse?

Seite 3: Ersehnte Eskalation mit Russland

Was muss passieren, dass die Europäer aufwachen und erkennen, dass Washington mit dem Feuer spielt und aufgehört hat, der Beschützer zu sein, auf den sie sich bisher immer verlassen haben, und der stattdessen ihre Sicherheit gefährdet?

Wolfgang Bittner

Eine Bombe auch in der öffentlichen Meinung war nun der Abschuss des Verkehrsflugzeuges MH17 mit 298 Toten, der die Diskussionen vollständig spaltete. Russische Separatisten und, obwohl mit diesen nicht verbunden, Putin selbst wurde sofort für den Abschuss verantwortlich gemacht, die EU verhängte Sanktionen gegen Russland, die diese selbst Milliarden kosteten und das politische Klima auf Jahre vergiften sollten.

Die Untersuchung zu MH17 selbst dauerte lange, viele Beweismittel sind bis heute nicht öffentlich - warum eigentlich? -, der Abschlussbericht ist alles andere als überzeugend und beweist keineswegs eine Verstrickung Russlands, nicht einmal die Schuld der Separatisten.

Selbst wenn es so wäre, hätte der Westen hier doppelte Maßstäbe angelegt: Sowohl die Ukraine als auch die USA haben versehentlich schon Verkehrsflugzeuge abgeschossen, ohne dass es eine annähernd vergleichbare Reaktion gab. Aber wen interessiert schon noch eine genaue Untersuchung nach ein paar Jahren?

Die mediale Aufmerksamkeit wechselte bald zum nächsten Thema, 2015 der Syrienkrieg in der bekannten Rollenverteilung: USA die Guten, die mit Syrien verbündeten Russen die Bösen.

Die doppelten Maßstäbe wurden so lächerlich, dass die Beliebtheit der Satiresendung Die Anstalt, die schon die Ukraine-Berichterstattung aufs Korn genommen hatte, durch die Decke ging.

Mittlerweile prozessierte die Zeit, weil die Anstalt die Verbindungen von zahlreichen Top-Journalisten zu transatlantischen Netzwerken verspottet hatte.

Bayerischer Außenminister: "Jetzt bombardiert ja der Putin auf Einladung von Assad hin, also im Einklang mit dem Völkerrecht, während Ihr Regime Change ja einen Bruch des Völkerrechts darstellt, was ja eine Sauerei ist … von dem Völkerrecht." US-Botschafter: "Schauen Sie…. das Völkerrecht ist eine wichtige Orientierungshilfe für … andere Länder...

Die Anstalt, 20.10.15

Zu dieser Zeit hatten die USA bereits eine beträchtliche Anzahl vermeintlich objektiver Organisationen gründen lassen, die ihre eigene Propaganda als Fakten absegnen ließ (wie Correctiv, Bellingcat) oder ihre Fakenews selbst produzierte, wie die White Helmets, welche zum Beispiel die alberne Geschichte einer aus Aleppo twitternden Siebenjährigen erfanden.

Aber auch Organisationen wie die OPCW, welche die echten oder vermeintlichen Giftgasangriffe in Syrien aufklären sollte, sind längst politisiert und manipulieren nach den Vorgaben des Westens. Bestenfalls kommt dies nach Jahren ans Licht, wenn die Weltgeschichte geschrieben wurde und es niemanden mehr interessiert.

Eine Lüge hat dreimal den Weg um den Globus gemacht, ehe die Wahrheit Zeit hatte, die Stiefel anzuziehen.

Mark Twain

Auf dem Weg nach Absurdistan

Die nächste Verbrechensanklage gegen Russland bzw. Putin kam 2018, als der ehemalige russische Agent Sergei Skripal und seine Tochter im englischen Salisbury vergiftet worden waren. Hier lautet die offizielle Darstellung, die beiden seien durch das stärkste bekannte Nervengift an einer Türklinke kontaminiert worden, um dann die nächsten vier Stunden bei einem Ausflug in der Stadt, beim Pizzaessen und einem Spaziergang zu verbringen, bevor sie schließlich gleichzeitig (!) auf einer Bank zusammenbrachen.3 Trotz der Brüche in der Logik wurde die hanebüchene Geschichte als "erster Einsatz von Massenvernichtungswaffen nach dem Zweiten Weltkrieg" absurd überhöht und politisch mit weiteren Sanktionen ausgeschlachtet.

Obwohl offenkundig lächerlich, wurde im Fall der Skripals (die Großbritannien im Übrigen bis heute verschwinden ließ) im kollektiven Gedächtnis verankert, das Gift "Nowitschok" könne nur aus Russland stammen.

Aber offenbar war die Behauptung nicht dumm genug, um zwei Jahre später im Fall Nawalny nicht nochmals aufgewärmt zu werden. Hauptargument: Bei Skripal war es auch schon so - und klar, Nowitschok wäre ideal um eine russische Urheberschaft zu verschleiern, oder?

Auch hier gab es weder ein wirkliches Motiv noch tatsächliche Hinweise für eine Beteiligung des russischen Staates, aber zahlreiche Widersprüche und Fragen, denen die Ermittler aus dem Weg gingen. Nach Großbritannien macht sich diesmal Deutschland zum Affen, in dem es einfach beschuldigte, aber die Herausgabe jegliches Beweismaterials verweigert.

Nach seiner medienwirksamen Behandlung in Berlin durfte Nawalny, finanziert von westlichen Geldgebern, seine Räuberpistole vom Gift auf der Unterhose herausbringen, was ihm die Täter selbst gebeichtet hätten.

Diese Art von Berichterstattung scheint mehr der Befriedigung eines sensationslüsternen Politmobs zu dienen als ernsthafter Aufklärung, bei der der Verstand benutzt wird.

Und warum das alles?

Die letzte Wahrheit ist im Einzelfall tatsächlich schwer herauszufinden. Aber solche katalysierenden Ereignisse der Weltpolitik, seien es Anschläge, Chemiewaffen oder Vergiftungen, folgen einem erstaunlichen Muster.

Die Öffentlichkeit ist schockiert von der Gewalt, Empörung über die Rücksichtslosigkeit der Tat kocht hoch, ohne angemessene Untersuchung der Hintergründe folgen zeitnah aggressive Vergeltungsmaßnahmen wie Sanktionen, Militärschläge oder gar Kriege.

Bei genauerem Hinsehen und Bekanntwerden mancher Einzelheiten wird jedoch die Evidenz für die Anschuldigung meist erstaunlich dünn. Praktisch immer wird eine rückhaltlose Aufklärung durch vermeintliche Sicherheitsinteressen von Staaten verhindert.

Die Öffentlichkeit muss sich stattdessen mit den Zusicherungen von Geheimdiensten begnügen, die schon oft der Lüge überführt wurden. Zudem zeigt eine lange Geschichte von Lügen, die Kriege rechtfertigten - Bomben auf Nürnberg 1914, der Sender Gleiwitz 1939, Operation Northwoods 1962, Golf von Tonkin 1964, die Brutkastenlüge 1991, angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak 2003, dass False-flag-Aktionen ein probates Mittel der Politik sind. Die Frage "Cui bono?" ist daher stets sinnvoll.

Niemand kann wohl Ereignisse wie MH17, die echten oder vermeintlichen Giftgaseinsätze in Syrien, die Vergiftungen von Skripal und Nawalny, die Morde an Politkowskaya, Litvinienko und Nemzov restlos aufklären, erst recht nicht ohne Spezialwissen von Regierungen und Geheimdiensten (das gilt im Übrigen auch für 9/11), deren Archive noch Jahrzehnte geschlossen sein werden.

Ich gebe zu, 2006 im Fall von Politkowskaya und Litvinenko auch eine Beteiligung des russischen Staates für möglich gehalten zu haben. Aber das sich so oft wiederholende Muster aus geschürter Empörung, Widersprüchen, sobald man etwas ins Detail geht sowie verhinderter Aufklärung bei gleichzeitig durchsichtigen Motiven für die politische Ausschlachtung lässt doch aus der Gesamtperspektive der letzten zwanzig Jahren eine Arbeitshypothese plausibler erscheinen: nämlich dass möglicherweise sämtliche dieser Vorwürfe gegen Putin erstunken und erlogen sind, in vielen Fällen generiert durch verdecktes Handeln, mit dem der militärisch-industriell-geheimdienstliche Komplex des Westens seine schmutzige Existenz rechtfertigt und die Welt mit einer Strategie der Spannung überzieht.

Gestattet man sich einen solchen Wechsel der Perspektive, erscheint vieles logischer, was in der Welt in letzten Jahren vorgefallen ist, wenngleich die Taktik, mit viel Dreck zu werfen, sicherlich enorm erfolgreich war.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten erschien 2019 im Westend-Verlag.