Rachemorde

Irak: Im Schatten des Konflikts zwischen Regierung, Besatzern und Aufständischen begleichen Milizen ihre eigenen Rechnungen

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Während hinter den Kulissen zwischen den schiitischen und kurdischen Wahlgewinnern über Posten und Forderungen verhandelt wird, zeigt der brutale Selbstmordanschlag, der sich heute in Hilla, etwa 100 Kilometer südlich von Bagdad, ereignet hat, dass die neue Regierung vor harte Proben gestellt wird.

Nationale Einigkeit über ethnische und religiöse Differenzen hinweg lautet die versöhnliche Parole, welche vor allem die schiitischen Wahlsieger ausgegeben haben. Sunniten sollen trotz des Wahlboykotts maßgeblich am politischen Prozess beteiligt werden. Dem sectarian strife, dem Konflikt zwischen den unterschiedlichen religiösen Gruppierungen, soll durch die Wahlen kein neuer Nährboden zuwachsen, damit er sich nicht zu einem Bürgerkrieg entwickeln kann. Genau gegen diese Bemühungungen zielt der Anschlag von heute.

Es ist der blutigste Anschlag seit vielen Wochen. Mindestens 110 Menschen sind bei dem Selbstmordanschlag ums Leben gekommen; mehr als 130 wurden verletzt. Der Anschlag galt Bewerbern für irakische Sicherheitsdienste, die für eine medizinische Untersuchung anstanden, getötet wurden aber auch Passanten; in unmittelbarer Nähe zu dem Regierunsgebäude befindet sich ein Markt. Der Großteil der Einwohner von Hilla sind Schiiten.

Indes der spektakuläre Anschlag von heute breite Aufmerksamkeit in den Nachrichten finden wird, weist ein Bericht der amerikanischen Knight Ridder-Journalistin Hannah Allam auf eine bislang von den Medien kaum bemerkte Tötungswelle hin, die sich seit der Wahl verschärft hat und "droht, zu einem Bürgerkrieg zu eskalieren". Es geht um einen Krieg, der im Schatten der Auseinandersetzung zwischen "Aufständischen" und "Okkupanten/Kollaborateuren" geführt wird. Dem Bericht zufolge zeigen weder die Amerikaner, die ganz vom Kampf gegen sunnitische Widerständler eingenommen sind, noch die Führer der Schiiten größeres Interesse an dieser Mordserie, die allen Indizien nach von schiitischen Milizen begangen werden.

Seit dem Wahlttag, dem 30.Januar, sollen die schiitischen Milizen eine Liste von ausgewählten Opfern mit größerer Intensität als zuvor abarbeiten. Die Opfer sind ehemalige Mitglieder des Sicherheits- und Geheimdienstpersonals unter Saddam Hussein. Ähnlich wie die sunnitischen "Aufständischen" verteilen die schiitischen Milizen gedruckte Todesdrohungen - an frühere Baathisten, die damit gezwungen werden, ihre Häuser zur öffentlichen Dokumentation ihrer Schuld mit einer weißen Flagge zu kennzeichnen.

In den letzten Wochen seien der Selbstjustiz unter anderem ein ehemaliger Richter Saddam Husseins, Taha Hussein Amiri, der unter dem alten Regime Todesurteile aussprach, zum Opfer gefallen, sowie hochrangige Mitarbeiter des Geheimdienstes, samt Begleiter. Auch ehemalige Regime-Mitglieder schiitischer Herkunft sind im Visier, da es für die Kommandos leichter sei, sich in schiitischen Vierteln zu bewegen.

Da bislang kaum oder gar keine Untersuchungen zu diesen Mordfällen angestellt wurden, gibt es allerdings nur Vermutungen über die genaue Identität der Täter, die sowohl von den Angehörigen der Opfer wie vom Chef des irakischen Geheimdienstes den Badr-Brigaden zugeordnet werden. Hadi al-Ameri, der Führer der Badr-Organisation, wie die Miliz jetzt offiziell heißt, bestreitet die Vorwürfe aus dem Innenministerium, räumt jedoch ein, dass einige Schiiten frühere Baathisten auf "eigene Rechnung" attackieren würden. Die Lage für die Baathisten würde viel schlimmer aussehen, wenn Großayatollah Ali Sistani die Milizen nicht darum gebeten hätte, die Gerichte und nicht Waffen "für ihre Rache zu nutzen":

Die Baathisten sollten Tag und Nacht für Sistani beten.

Al-Ameri

Für den Sprecher des Innenministeriums ist die Serie von Morden an frühere Baathisten Besorgnis erregend:

Es ist nur der Anfang und wir könnten sehr schnell auf einen rutschigen Abhang geraten. Wir sind so beschäftig damit gewesen, die Terroristen und Islamisten zu entfernen, dass diese andere Sache ihr häßliches Haupt erheben konnte. Beide Seiten schärfen ihre Messer.

Sabah Kadhim