"Radikalisierung der Querdenker-Szene hat sich beschleunigt"

Performance von Maßnahmen-Kritikern im Januar 2021 in Wien. Bild: Bwag, CC BY-SA 4.0

Der Journalist Alexander Roth über seine Recherche in Telegram-Kanälen, die Furcht vor einer "Giftspritze" und falsch verstandene Konzilianz

Die Debatte über eine generelle Impfpflicht gegen Covid-19 geht mit Warnungen vor eine Spaltung der Gesellschaft einher. So hatte Fußball-Nationalspieler Joshua Kimmich mit seiner anfänglichen Entscheidung gegen die Impfung eine heftige Kontroverse provoziert.

Auch nach seinem jüngsten Meinungswandel und der Ankündigung, sich impfen zu lassen, bleiben Kimmich Zweifel: "Wenn wir jetzt sagen, wir haben genug aufgeklärt, jetzt müssen wir Druck ausüben, bin ich mir nicht sicher, ob das der richtige Weg ist und ich glaube, das wird dann zu einer noch größeren Spaltung in unserer Gesellschaft führen", sagte er im Interview mit dem ZDF.

Bundeskanzler Olaf Scholz will diesem Trend entgegenwirken: "Ich will das Land zusammenhalten. Und bin also auch der Kanzler der Ungeimpften", so Scholz in der Bild am Sonntag. Unterschiedlicher Meinung zu sein, laufe nicht automatisch auf eine Spaltung hinaus.

"Wir dürfen auch streiten. Ich bin überzeugt, dass die allermeisten Ungeimpften diese Fackelkundgebungen als genauso widerwärtig empfinden wie ich." Scholz spielte damit auf eine Kundgebung mit Fackeln vor dem Wohnhaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) an.

Mit den zunehmend vehementen Protesten gegen eine mögliche Impfpflicht im Speziellen und die Corona-Maßnahmen im Allgemeinen hat sich der Journalist Alexander Roth befasst.

Für den Zeitungsverlag Waiblingen verfolgte er eineinhalb Jahre lang Querdenker-Kanäle auf Telegram aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, vor allem aber aus Baden-Württemberg. Roth ist sich sicher: "Die Szene hat sich seit längerem radikalisiert."

Eine zentrale Rolle spiele die Einstellung zur Covid-Impfung. Ein erheblicher Anteil der Querdenker auf Telegram gehe offenbar davon aus, schrieb Roth in einem Beitrag des Onlineportals zvw.de, dass eine Impfung unmittelbar oder indirekt zum Tod führe.

Der Journalist sieht eine unmittelbare politische Konsequenz: Wer sich vor einer staatlich verordneten "Giftspritze" fürchte, lehne nicht nur die Impfung ab. Er werde auch "mit aller Gewalt Widerstand leisten".

Gefährliche Frustration der Querdenker

Deutlich erkennbar sei in einschlägigen Kanälen ein geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild. Der eigenen Ansicht widersprechende Informationen würden nicht mehr wahrgenommen, Widerspruch führe zum Ausschluss.

Nach fast zwei Jahren der Pandemie und wiederkehrender Proteste gegen medizinische wie politische Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sieht Roth eine zunehmende Frustration in Querdenker-Kreisen.

Trotz aller Aktionen ist der Einfluss der radikalen Szene schließlich begrenzt geblieben, schreibt er auf zvw.de: "Und doch sind die Menschen, die man hinter der angeblich geplanten Pandemie vermutet, nicht im Gefängnis, es gibt keine ‚Tribunale‘, keine Neuauflage der Nürnberger Prozesse. Nichts, was die Köpfe der Querdenker-Szene versprochen haben, ist eingetreten."

Diese Entwicklung führe zu einer unübersehbaren Radikalisierung, so Roth. So werde in einschlägigen Telegram-Kanälen auf – auch gewalttätige – Proteste im Ausland verwiesen und ein aggressiveres Vorgehen hierzulande diskutiert.

Roth führt zum Beleg für die Gewalt- und Tötungsfantasien eine Reihe von Zitaten an. "Diese ganzen korrupten Politiker, die müssen alle am Galgen baumeln!", heißt es da, oder: "Einfach mal fünfe gerade sein lassen und die Säcke über den Haufen schießen!"

Dass es nicht nur bei Worten bleibt, haben die Ereignisse der vergangenen Wochen gezeigt. Im September hatte im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein ein Mann einen Angestellten einer Tankstelle erschossen, nachdem dieser ihn gebeten hatte, einen Mund-Nasen-Schutz über sein Gesicht zu ziehen.

Und im brandenburgischen Senzig hat ein 40-jähriger Familienvater unlängst seine Frau sowie seine drei Töchter erschossen und dann Suizid begangen. Laut dem Abschiedsbrief fürchtete er nach der entdeckten Fälschung eines Impfzertifikats seine Verhaftung und die Wegnahme der Kinder im Alter von vier, acht und zehn Jahren.

Telepolis stellte dem Journalisten Alexander Roth über diese Entwicklung und seine Erkenntnisse drei Fragen.

"Grundsätzlichen Staatsfeindlichkeit bei führenden Personen"

Es gab aus den Bundesländern im Falle der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht zuletzt vermehrt Warnungen vor einer Radikalisierung von Maßnahmengegnern. Wie schätzen Sie das auf Basis Ihrer Beobachtungen ein?
Alexander Roth: Die Radikalisierung der Querdenker-Szene ist ein fortschreitender Prozess, den wir schon lange beobachten können. Davor warnen nicht nur Expertinnen und Experten seit anderthalb Jahren. Auch Behörden haben diesen Prozess schon längere Zeit auf dem Schirm.
So warnte etwa das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg im Januar in Bezug auf "Querdenken"-Initiativen vor einer "grundsätzlichen Staatsfeindlichkeit bei führenden Personen".
Richtig ist aber meiner Wahrnehmung nach, dass sich diese fortschreitende Radikalisierung der Querdenker-Szene gerade noch einmal beschleunigt hat. Gewalt- und Tötungsfantasien in Telegram-Kanälen der Szene nehmen zu, vergleichbare Äußerungen auf Demonstrationen ebenfalls. Auch physische Angriffe auf Menschen oder Institutionen, die der Szene als Feindbild gelten, häufen sich. Die Zeichen stehen auf Eskalation.
Dabei spielt die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht eine zentrale Rolle. Mit zwei Einschränkungen.
Erstens: Die Impfpflicht, die politisch diskutiert wird, hat wenig mit dem zu tun, wie diese Impfpflicht auf Telegram rezipiert wird. In der Querdenker-Szene ist vom "Impfzwang" unter Gewalteinwirkung die Rede, verbunden mit Verschwörungserzählungen über die angeblich tödliche Wirkung des Impfstoffs. Wörter wie "Giftspritze" oder "Todesspritze" bestimmen den Diskurs.
Zweitens: Für diejenigen in der Szene, und da sprechen wir auch von führenden Köpfen, die sich einen Umsturz herbeisehnen, ist der Anlass austauschbar. Sollte die Impfpflicht nicht kommen, finden sie das nächste Thema.
Gibt es in der von Ihnen Beobachteten Szene Abstufungen, oder anders gefragt: Wie unterschiedlich ticken Corona-Impfgegner und welche Teile der Szene sind für Argumente noch empfänglich?
Alexander Roth: Zuallererst: Ungeimpfte sind nicht automatisch Impfgegner, Impfgegner nicht automatisch Querdenker. Wenn ich von der Szene spreche, die ich beobachte, geht es immer nur um letztere.
Natürlich gibt es Abstufungen der Radikalität innerhalb der Querdenker-Szene, und es gibt auch regionale Unterschiede.
In Baden-Württemberg waren beispielsweise von Anfang an Verbindungen in esoterische Kreise oder die Reichsbürger-Szene sichtbar, in Sachsen dominiert die rechtsextreme Szene das Protestgeschehen. Und auch innerhalb der Gruppen, seien es örtliche Initiativen oder Telegram-Kanäle, gibt es natürlich Unterschiede.

Radikaler Teil der Szene von etablierten Medien abgeschottet

Ich möchte das an folgendem Punkt exemplarisch erläutern: Nicht alle Querdenker sind gewaltbereit. Aber wenn wir die aktuellen Demonstrationen und Telegram-Diskussionen als Indikator nehmen, steigt die Anzahl derer, die Gewalt in der aktuellen Situation als vertretbar ansehen. Und die Anzahl derer, die offen darüber sprechen, Gewalt anwenden zu wollen.
Diese Abstufungen verschwinden auch bei anderen Aspekten zunehmend. Wir müssen uns klarmachen: Die Leute, die jetzt noch Teil dieser Szene sind, haben in der Regel ein geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild. Sie bewegen sich in einer Blase, die sie regelmäßig mit Fehlinformationen und Propaganda füttert.
Etablierte Medien dringen kaum noch in diese Blase vor, es sei denn sie bestätigen das vorherrschende Weltbild. Sie haben sich trotz all dem Hass und der Hetze, der Gewalt und den neben ihnen marschierenden extremistischen Gruppen nicht von der Szene abgewendet. Ich persönlich weiß nicht, wie man diese Leute noch mit Argumenten erreichen soll.
Welches Vorgehen halten Sie für angebracht: Reden oder Restriktionen?
Alexander Roth: Im privaten Bereich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Reden, oder sich abwenden. Das entscheidet jeder für sich. Die Politik hat es teilweise mit Reden versucht. Michael Kretschmer in Sachsen, beispielsweise. Auch Armin Laschet.
Damit wurde meiner Einschätzung nach nichts erreicht, im Gegenteil: Zögerndes staatliches Handeln hat in der Vergangenheit fatale Signale gesendet und zur Normalisierung verfassungsfeindlicher Positionen geführt.
Wir sprechen hier von einer radikalen Minderheit, die verfassungsfeindliche Positionen vertritt und demokratische Prinzipien ablehnt. Die mit Plakaten, auf denen Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlost werden, oder die Todesstrafe für Politiker gefordert wird, durch die Straßen zieht. Die Presse und Polizei angreifen. Das sind Angriffe auf unsere Demokratie.
"Querdenken 711" hat den Slogan "Wir für das Grundgesetz" vor sich hergetragen. Vor wenigen Tagen haben Querdenker in Stuttgart das Grundgesetz verbrannt. Hier stehen wir. Nun muss der Staat zeigen, dass er wehrhaft ist. Restriktionen sind jetzt dringend geboten. Die Zeit des Redens ist vorbei.