Raptivism 2001

Die Wiederentdeckung von Hip Hop als Sprachrohr für Gesellschaftskritik

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Seit seiner Entstehung vor rund 20 Jahren hat Hip Hop einen unvergleichlichen globalen Siegeszug erlebt. In den schwarzen Ghettos von New York war Ende der Siebziger auf selbstorganisierten Blockparties mit Rap ein neuer Sound, mit HipHop eine neue urbane Subkultur entstanden, die schon bald nicht nur die Popmusik grundlegend beeinflussen und umgestalten, sondern auch die kulturellen Praxen der schwarzen Widerständigkeit neu definieren sollte. Mittlerweile ist HipHop nicht nur zu einem der bestumsetzenden Popmusik-Märkte der Musikindustrie, sondern zu einer weltweiten, weitverzweigten Jugendkultur mit eigenen Ritualen, Werten und Praktiken avanciert, die viele verschiedene Spielweisen, Formen, Spezifika und v.a. Lesarten aufweist.

Still aus dem klassischen Hip-Hop-Film Wild Style, 1982

Eine der Lesarten des HipHop ist, diesen als Sprache der Auflehnung und Subversion zu verstehen. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Natürlich ist der Bereich im HipHop, auf den hier Bezug genommen wird, gegenwärtig marginal. Heutzutage ist HipHop v.a. "trash as pop can be", d.h. inhaltslose, kommerzielle und kulturindustriell gefertigte, quasi "geklonte" MTV-Massenware... Ganz HipHop? Nein! ...die Sache mit dem kleinen Dorf und dem unermüdlichen Widerstand...

HipHop ist die Erzählung, das Master Narrative unserer Epoche. HipHop ist die Musik der Jugendlichen und der Minderheiten nach der Hoffnung auf Überwindung von Widersprüchen, auf Revolution und Utopie.

Diedrich Diederichsen

Lets Get Free

Cover von "Let's Get Free", Dead Prez

Marx paraphrasierend lässt sich feststellen: die Geschichten der Schwarzen in den USA ist eine Geschichte von rassistischer Marginalisierung und Unterdrückung und damit auch immer eine Geschichte von Kämpfen. Diese spiegelten sich auch in bestimmten kulturellen Praktiken wieder. Die Verbindung von schwarzem Widerstand und Musik hat eine lange Geschichte.

From the moment Harriet Tubman sang "steal away" to signal runaway slaves that it was time to flee, music has been not only a weapon of African-American resistance to racism, but part of African-American strategic pool of group Consciousness.

Ingrid Kerkhoff

Diese Tradition hat die HipHop-Kultur aufgenommen und weitergeführt, wobei sich Rap durch seine außerordentliche Textlastigkeit als hervorragendes Medium für Kritik erwies. Rap galt lange Zeit als bisher massivste Form von musikalischer Sozialkritik und Widerständigkeit der Schwarzen, als kraftvolles Instrument der kulturellen Dissidenz. Selbst Quincy Jones gerät ins Schwärmen:

"It's no fad, man. And it's not just a new kind of music. It's a whole new subculture that's been invented by the disenfranchised...It may be profane and abbrasive, but I think, it's a very powerful and positive force. And it's the freshest thing that happened musically in thirty years."

Es ist allerdings falsch, Rap ausschließlich als explizit politischen Diskurs zu behandeln , denn das hieße seine Ursprünge als urbane Partykultur zu ignorieren und ihn in eine funktionalistische Struktur zu zwängen, die entlang konstruierter politischer Raster verläuft. Schließlich kam es auch immer darauf an, gemeinsam eine Menge Spaß zu haben.

Um 1980 herum begann sich die Musikindustrie für die Hip-Hop-Subkultur zu interessieren. Was auf Kassetten längst in der Szene kursierte - die Kombination aus Rapping, Breakbeats und Funkmusik - verschmolz in den Studios der Plattenfirmen zu einem neuen Genre, dem Rap. Mit den Erfolgen der ersten Rapper-Generation, der sog. Old School, trat Hip-Hop aus seinem lokalen Rahmen heraus. Entgegen der allgemeinen Einschätzung des Mainstreams, Rapmusik wäre eine temporäre Modeerscheinung, eroberte diese unaufhaltsam den Popmarkt. Schon bald entstanden in anderen Großstädten der USA (Los Angeles, San Francisco, Houston, Chicago u.a.) neue Rapszenen mit eigenen spezifischen Sounds. Rapper begannen sich in Labels zu organisieren.

Mitte der 80er Jahre war Rap in der Kulturindustrie etabliert und zum weltweiten Absatzmarkt geworden. Es folgten verschiedene Entwicklungs-Phasen, vom radikal politischen Sound der New School (v.a. Public Enemy) über die verspielten Beats der Native Tongues (u.a. De La Soul, Jungle Brothers und A Tribe called Quest) bis zum poppigen G-Funk des Gangsta-Rap (v.a. NWA, Ice-T später Snoop Dogg, 2Pac), die v.a. eines bewirkten: eine stilistische Fragmentierung von HipHop. Damit einher ging eine steigende Kommerzialisierung und verbunden damit eine fundamentale Entradikalisierung/Entpolitisierung. Mitte der 90er Jahre verabschiedeten sich die letzten fortschrittlichen und kritischen Inhalte des HipHop und verschwanden in der Bedeutungslosigkeit. Fortan dominierte das sinnentleerte Reden um Sex, Geld und Macht - die Insignien der amerikanischen, kapitalistischen Gesellschaft.

Master P wird mit "Jiggy HipHop" assoziiert

THE JIGGY SHIT IS OVER!

Bereits Anfang der 90er begannen die HipHop Kids Danny Castro und Anthony Marshall in New York informelle HipHop Shows, "open mic sessions" zu organisieren. Mit der sogenannten "Lyricist Lounge" schufen sie dem Underground-HipHop ein Forum und förderten mit Geduld und Beharrlichkeit die New Yorker Nachwuchs-Szene - und stießen auf begeistertes Interesse. "Die Leute wollten wieder wirklich kreative Lyrics hören und kreative Musik. Es ging ja schließlich mal darum, etwas zu sagen zu haben und seine Skills zu demonstrieren," erklärt Anthony Marshall in einem Interview. Ende 1997 schließlich wurde in Assoziation mit dem unabhängigen HipHop Label "Rawkus" der Sampler "Lyricist Lounge Vol. I" veröffentlicht, auf dem sich die herausragendsten Lounger ein Stelldichein geben.

Cover von "Lyricist Lounge Volume One"

In beeindruckender Dichte finden sich ernsthafte, kreative Lyrics, die sich, fernab von glitzerndem Glamour und gewaltverherrlichender Pose, auf die Traditionen von HipHop "back in the days" zurückbesinnen. Das Album schlägt in den USA wie eine Bombe ein und beschert dem Conscious Rap damit wieder ein Comeback. Die neue Verbindung von HipHop und politischer Aktion entwickelt eine Re-Formation von HipHop als Ausdruck subversiver Kritik: Raptivism.

Dieser Begriff ist eine Neuschöpfung, setzt sich aus den Wörtern "Rap" und "Activism" zusammen . Neue Künstler traten mit einem fast schon postmodern anmutendem Gestus an: im Wissen um die soziale Situation der schwarzen Communities, den nach wie vor repressiven, rassistischen gesellschaftlichen Strukturen, die diese produzieren, aber auch um die historischen Entwicklungen, die HipHop bei der Thematisierung dieser Probleme durchlief, werden keine Konzepte von politischer Lösung oder universeller Wahrheit verfolgt.

Say Real HipHop

Der Ausverkauf des "Real HipHop", des wahren HipHop, der Verlust der "credibility", d.h. der Glaubwürdigkeit und die Tatsache, dass HipHop von so vielen "fake niggaz and wack MCs", falschen Schwarzen und schlechten Rappern besetzt ist, wird von der sog. "true school" beklagt, allerdings aus unterschiedlichen Motivationen: den einen geht es um die "reine Lehre", die nicht kommerziell beschmutzt werden darf, andere beanspruchen das Geld, den Ruhm und Erfolg für sich. Die Betonung des historischen Erbes von HipHop als kultureller Ausdruck von sozialen Realitäten, aber auch von Kritik und Dissidenz, zieht sich durch nahezu alle Tracks.

Entgegen gängiger Rezeptionen, die dies als oberflächliche, selbstbezogene Abgrenzungsrhetorik (gegen die Westküste), arrogante Stilpflege oder Wertekonservatismus interpretieren, wird die zentrale Bedeutung, die das Etikett "real HipHop" trägt, bewusst, wenn o.g. Aspekte berücksichtigt werden. Diese Form von Thematisierung könnte man als "indirekt" oder "implizit" politisch bezeichnen. Direkt politisch hingegen artikuliert sich "Raptivism". Allerdings wird er von der neuen Generation weder so programmatisch und propagandistisch verkündet, wie von der "New School", noch so verträumt und spirituell, wie die "Native Tongues" es zu tun pflegten, sondern eher in einer aufgeklärt eklektizistischen Gelassenheit.

Raptivism

If revolution had a movie I'd be theme music.

Common auf "6th Sense"

Wenngleich sich nun mit HipHop viel Geld verdienen ließ und damit als Sprachrohr für sozialen Unmut und Kritik schon lange immer unglaubwürdiger wurde, der Bezug zum Ghetto oftmals nur noch als hohle Attitüde verblieb, änderte sich die Situation in den realen Ghettos für die schwarze Community selber kaum. Im Gegenteil. Dank Reaganomics, deren modifizierter Transformation unter der Regierung Clinton, mit Abschaffung der Sozialhilfe und Durchsetzung einer repressiven Ordnungspolitik, verschärften sich die Lebensbedingungen massiv. Mit der "Zero-Tolerance"-Politik des New Yorker Bürgermeisters Giuliani und "Prop21" in Kalifornien setzte eine aggressive Kriminalisierung im öffentlichen Raum ein, die insbesondere die schwarze Community zum Ziel hatte und auch traf. "When they talk about terminating the threat, we're the threat they're talking about terminating," stellt der MC Talib Kweli zurecht fest. Ohne den Automatismen von Verelendungstheorien zureden zu wollen, lässt sich dennoch feststellen, dass diese drastischen, konkreten Verschlechterungen neuen Protest und Widerstand in den Ghettos und in der Hi-Hop-Szene erzeugte. Hip-Hop-Veteran Davey D analogisiert:

"The same conditions that gave rise to HipHop culture in the late 70ies exist right now. Today there is an all out attack on young people by the 'establishment'. Young people are being marginalized and conveniently being scapegoated for all of societies woes. The reaction you get from young people today is what you got twenty years ago - HipHop and all its expressions. It's a reaction to economic, social and political conditions that people find oppressive. The big difference is: in the 70ies there was no blue print."

"Raptivism" wird fortgesetzt mit Besprechungen einzelner Künstler/Gruppen, u.a. Black Star, Mos Def, Dead Prez.