Reality Lexikon: Das vernetzte Museum

Acht Bremer Museen speisen die Informationen über ihre Exponate in eine gemeinsame Datenbank ein, das Lebendige Museum Online Museum ist ein Pilotprojekt für schnelle Netze.

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Goetz Mackensen liebt große Zahlen. Bis Ende April 2000 will der Koordinator Neue Medien am Bremer Überseemuseum 5000 Ausstellungsstücke in einer neuen Datenbank archiviert haben. Das Besondere: Jeder Datensatz wird automatisch mit Bild auch im Internet präsentiert. Das Projekt CHARM (Cultural Heritage at Remote Museum) lernt laufen. Mackensen träumt vom großen Kunstlexikon online: "In eineinhalb Jahren ist der gesamte Bestand des Überseemuseums eingegeben."

Walfängeruhr

Ein Museum verlangt nach Zeit. Wer Kunst erleben will, muss sich aus dem Alltag lösen und eintauchen in das Angebot an Bildern, Skulpturen, zeitgeschichtlichen Zeugnisse. Was auf der Strecke bleibt, sind häufig Zusatzinformationen zu den ausgestellten Werken sowie Querbezüge. Die gibt es allenfalls in ausführlichen Katalogen oder in der Fachliteratur. Mehr Wissen rund um die Kunst wollen acht Museen im Bundesland Bremen anbieten. Das Überseemuseum (ein Museum für Völkerkunde, hält dabei die Fäden in der Hand.

Geplant ist ein Computersystem, das alle Daten über Ausstellungsstücke in acht Museen Bremens und Bremerhavens speichert. Dabei ist es egal, ob die Skulptur aus Afrika in einer Vitrine zu sehen ist oder im Magazin liegt. Dort lagern die meisten Schätze - verborgen hinter verschlossenen Türen. Eigentlich, so Mackensen, sollen die Mitarbeiter in diesen Museen mit dieser komplexen Datenbank als Recherche- und Informationsmedium arbeiten können - mit Zugriff auf die Informationen der Kollegen in den anderen Museen Bremens. Später auch in anderen Städten. So ganz nebenbei entsteht jedoch auch eine Internetversion. Sie ist für die Öffentlichkeit gedacht. In den Webseiten verborgen liegen Abfragecodes für die Datenbank. Sobald ein Mitarbeiter eines Museums ein neues Exponat katalogisiert hat, erscheinen die Informationen auch auf der Webseite. Das sind unter anderem ein Bild, Informationen über Alter, Herkunft, Geschichte oder Zusammenhänge mit anderen Kunstformen.

Mackensens Ziel ist die Vernetzung der musealen Kunst, damit am Ende die Besucher in Museen gehen, die sie sonst nie betreten hätten. Er nennt ein Beispiel: Wer in der Bremer Kunsthalle das Bild "Der Blaue Reiter" betrachte, erfahre dort nichts über die Verbindung zu Mikronesien. Informationen, die das Völkerkundemuseum sehr wohl zu bieten hat. Im virtuellen Museum dagegen sollen solche Bezüge aufgebaut werden wie im Lexikon. Mikronesien, Südsee, Ikonografie aber auch Franz Marc und Wassily Kandinsky sind mögliche Stichworte zum Anklicken. Die Exponate liegen in verschiedenen Häusern verteilt - es entsteht ein neuer thematischer Zusammenhang, gesteuert durch das Interesse des Besuchers.

Ganz vorsichtig dagegen nähert sich Thomas Deecke dem neuen Medium. Er ist der Leiter des Neuen Museums Weserburg. Für ihn, der sich vorwiegend mit moderner Kunst befasst, ist ausschließlich das Museum der Ort, in dem Kunst betrachtet werden kann: "Man darf nie vergessen: Der Bildschirm ist nur Ersatz." Abfällig bewertet er Internetauftritte von Museen, die dort ihre Werke als die typischen kleinen Bilder präsentieren. Sinn macht für den Museumschef das Internet nur als Informations- und Forschungsmedium. Wenn historische Buchseiten als Faksimile online gebracht werden können, erwärmt er sich aber plötzlich für das neue Medium. "Dann ersetzt das die Zerstörung des Buches." Erst wenn sich - wie in Mackensens Vorstellung - Bezüge zwischen den Kunstwerken verschiedener Museen herstellen lassen, dann findet er auch Gefallen an der Präsentation der hauseigenen Exponate. Auch in der Weserburg werden deshalb ab Herbst die Daten in die Eingabemaske des neuen Programms getippt. Für Hanne Zech, stellvertretende Leiterin des Museums, steht die Recherchefunktion der Datenbank im Vordergrund. Eine neue Stelle wurde geschaffen, "ein Teil der Arbeit ist die Pflege der Datenbank".

Noch läuft viel Einrichtungsarbeit hinter den Kulissen. Der Aufbau der Server werde erst zum Anfang des Jahres 2000 abgeschlossen sein, kalkuliert Mackensen. Offen ist noch, ob die Daten über das landeseigene ATM-Netz oder über ISDN-Leitungen zwischen den Museen ausgetauscht werden. Eine Aufspaltung in eine Internetversion und eine andere Variante für ein Breitbandnetz wird es aber nicht mehr geben. Das war ursprünglich geplant, um der großen Datenmengen Herr zu werden. Heute reiche die doppelte ISDN-Geschwindigkeit, meint Mackensen.

Bisher kostete CHARM rund 460 000 Mark. Die Hälfte der Kosten bezahlte das Wirtschaftsressort der Landesregierung. Die Idee des vernetzten Museums ist im übrigen nicht neu. Mackensen erinnert sich an das European Museum Network. Es entstand 1988. "Das war damals noch viel zu früh." Damals standen die notwendigen Netzverbindungen noch nicht zur Verfügung. Also entstand die Idee zum lokalen Netz. Für Mackensen Arbeit genug: "Ich bin schon froh, dass ich in Bremen acht Museen unter einen Hut bekommen habe."

Das Lebendige Museum Online

Glasnost, Spiel, 1989

Das Lebendige Museum Online verbindet Zeitalter, Politik, Kunst und Gesellschaft. Tausende von Hyperlinks führen kreuz und quer durch die Geschichte. Megabyteweises Warten für 3D inbegriffen, denn das Lebendige Museum ist ein Pilotprojekt für superschnelle Netze (es gibt allerdings auch eine schnelle 2D-Version). Eingerichtet haben es das Deutsche Historische Museum Berlin (DHM), das Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn (HdG) und das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik (ISST). Diese virtuelle Welt braucht selbst mit ISDN fast zehn Minuten, bis bei Höchstgeschwindigkeit das Foyer betreten werden kann. Doch die Mühe lohnt sich. Die Maus wird zur Gehkrücke. Objekte, wie Gemälde oder Weltkarten hängen an den Wänden der Eingangshalle. Oldtimer stehen neben Skulpturen, Büsten erinnern an berühmte Geister. Ein Klick ruft ein enzyklopädisches Hintergrundlexikon auf, das vor Querverweisen nur so strotzt. Wer tiefer in dieses real nicht existierende Labyrinth eintaucht, erlebt kunstvolle Räume, die die Schwerkraft zu verhöhnen scheinen.

Wie Urnen in ihren Wandnischen liegen die Exponate in einem groben Raster - in allen vier Wänden. Solch überbordendes Wissen multimedial aufzubereiten ist eine aufwendige Fleißarbeit. Während das Lebendige Museum Online nur an der Oberfläche wirklich ästhetisch ist, erlaubt das Deutsche Historische Museum einen echten Blick in sein Innerstes. Besucher des Hauses in Berlin werden Pech haben: das Zeughaus, in dem die »Bilder und Zeugnisse der deutschen Geschichte« ausgestellt waren, ist geschlossen. Bis 2002 wird renoviert. Solange bietet ausschließlich das Internet eine umfangreiche Führung. Wir erleben hier vier Stunden Hörbeispiele, die in 39 Panoramafotos angeklickt werden können. Mit dem Quicktime-Plugin können die Räume des Museums in jeder Richtung durchschritten werden. Zur Beschreibung der Vita Friedrichs des Großen bemüht der Sprecher in klassisch dumpfer RealAudio-Qualität den Prinzen Heinrich. Eine virtuelle Welt, die zum Versinken einlädt.

Das Louvre ist da vergleichsweise schwach. Mona Lisa erscheint an ihrem Platz hinter dem Absperrbügel nur als verschwommener Pixelbrei. Zum Vergleich: In Berlin lassen sich teilweise sogar die Erklärungstafeln noch lesen. Eine Liste mit Museen weltweit gibt es bei World Wide Arts Ressources. Das Internet bietet aber noch mehr: Der Besucher wird bei Peter Halley selbst zum Künstler: In einer Abteilung des Museum of Modern Art in New York. Die »exploding cells« darf man dann selbst signieren - ein Original. Nicht greifbar. Allenfalls eine Kopie surrt aus dem Drucker. Virtuelle Welten eben.