Recherche schafft Relevanz

Seite 2: Demokratischer Prozess unmöglich

Solche Skandalisierungen zur Erzeugung von Relevanz verursachen ein massives Demokratieproblem. Denn die allermeisten Menschen erfahren von einem solchen Debattenbeitrag erstmals in dieser zugespitzten, in eine bestimmte politische Richtung geframten Form. Sie haben gar nicht die Möglichkeit, sich unvoreingenommen mit den Positionen zu beschäftigen. Die Medien liefern direkt eine als richtig geltende Einordnung mit. Zeit zum Nachdenken gewähren sie weder sich noch ihren Kunden.

Das Perfide daran: Während die beteiligten Schauspieler mit #allesdichtmachen gerade denen eine Stimme gegeben haben, die in der öffentlichen Debatte nicht (bzw. ausschließlich als wirre "Querdenker") vorkommen, okkupiert sofort die Meinungsführungselite den öffentlichen Raum und macht Diskussion, Meinungsaustausch und neue Meinungsbildung unmöglich.

Wenn es bei #allesdichtmachen einen Skandal gibt, dann ist es die Skandalisierung der Videos. Was ist los mit einer Gesellschaft, die derart gereizt und reflexhaft reagiert? Da gäbe es Relevantes zu recherchieren, etwa dazu, dass die Bundesregierung tatsächlich und dokumentiert nach Strategien der Angsterzeugung gesucht hat, was im Video mit Volker Bruch thematisiert wird, in der journalistischen Kommentierung aber als "Botschaften, wie man sie von Querdenken-Demos kennt" abgetan wird.

Relevante Auswahl

Gleichwohl: Auch ohne die Seiten- und Sendezeiten füllenden Skandalisierungen als Medien-ABM ereignet sich jeden Tag mehr Relevantes, als in den Nachrichten Platz finden kann. Da es keine Vollständigkeit geben kann (siehe Teil 3) sollte die Auswahl repräsentativ sein (siehe Teil 5). Das Qualitätskriterium der Relevanz verlangt zusätzlich, Mediennutzer nicht mit Belanglosem zu beschäftigen.

Typisches Indiz für diese Relevanz ist die Kombination von Neuigkeit und Nutzwert. Kunden möchten sich gerne darauf verlassen, dass Medien weder willkürlich (nach dem Zufallsprinzip) noch rein nach ihren Verwertungsinteressen aus der Fülle von News einzelne für relevant erklären, sondern dass sie den Überblick haben und mit begründeten, nachvollziehbaren Kriterien auswählen. Andernfalls müsste jeder Bürger selbst täglich die Flut zugänglicher Informationen durchforsten.

Um nur zwei in der Pandemie besonders wichtige Bereiche zu nennen: Justiz und Wissenschaft. Ist all das, was aus diesen Themengebieten nicht in der Zeitung steht und nicht im Radio vermeldet wird, im Vergleich zu anderen Meldungen irrelevant? Haben die Redaktionen das wirklich geprüft?

Das Problem der (boulevardesken) Einzelfälle

Publizierte Nachrichten ist normalerweise nicht anzusehen, wie relevant sie sind, weil die zur Einordnung notwendigen Angaben fehlen, aus welchem Pool sie geschöpft wurden. Die Tageszeitungen enthalten seit über einem Jahr täglich Polizeimeldungen zu mutmaßlichen Verstößen gegen Corona-Auflagen. Diese Nachrichten stammen keineswegs nur aus dem Verbreitungsgebiet, sondern aus ganz Deutschland, Europa oder sogar der Welt.

Ist nun aber die aufgelöste "Corona-Party" eine der ganz wenigen und gerade deshalb ungeheuerlichen Regelwidrigkeiten? Oder gäbe es in Wirklichkeit aus jeder Kommune ähnliches zu berichten und es ist eher Zufall, welche Meldungen es ins Medium schaffen? Das Problem gab es natürlich schon lange vor Corona: Pressemitteilungen der Polizei sind ein fester Bestandteil in den Spalten für "Vermischtes", und sie dienen mehr der Unterhaltung denn der Information, wie man deutlich daran erkennen kann, dass es praktisch niemals eigene Recherchen der Redaktionen dazu gibt und auch eine Folgeberichterstattung ausbleibt.

Polizeimeldungen bringen, gemeinsam mit den Promi-News, etwas Boulevard in ansonsten trockene Nachrichtenmedien. Der Orientierung dienen sie meist nicht. Sie sagen nichts aus über das tatsächliche Level von Kriminalität oder Unglücken, sie sagen nicht, was richtig und was falsch ist (sondern nur, wie die Polizei das in einer Momentaufnahme beurteilt hat).

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