Recherche schafft Relevanz

Seite 5: Einzelfälle als Recherchegrundlage

Anstatt beliebige Einzelfälle nachzuerzählen (siehe oben), sollten Einzelfälle stets Rechercheauftrag für Systemprobleme sein. Das gilt gerade für Gerichtsverfahren. Die Arbeitshypothese muss lauten: Es handelt sich vermutlich nicht um ein Unikat, sondern um einen Problemtypus, der auch an anderen Stellen auftreten kann (und keineswegs immer oder auch nur meistens vor Gericht landet).

Als Beispiel sei auf einen Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts verwiesen, der nur zu einem Bericht in der Lokalzeitung geführt hat (jedenfalls haben laut Gerichtssprecher keine weiteren Medien dazu angefragt).

Das Gesundheitsamt Itzehoe (bzw. ein dort beschäftigter "Containment-Scout") hatte Quarantäne für ein zweijähriges Kind angeordnet, in dessen Krippengruppe ein Corona-Fall aufgetreten war. Körperlicher Kontakt wurde untersagt, das Kind sollte räumlich separiert werden, Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam eingenommen werden. Das Verwaltungsgericht setzte diese Anordnung vorläufig außer Kraft.

Es ist davon auszugehen, dass es zu solchen Anordnungen auch in anderen Gesundheitsämtern kommt, zumal im vorliegenden Fall der Kreis keineswegs um Entschuldigung für einen Fehler gebeten, sondern die Prüfung einer Rechtsbeschwerde angekündigt hatte. Dass sich dieser Fall mit reichlich Skandalpotential noch nicht einmal auf bild.de findet, spricht eher für mangelnde Beobachtung von Gerichtsentscheidungen als für eine bewusste Irrelevanz-Erklärung - was das Problem allerdings nicht kleiner macht. Wer sonst sollte die Gerichtsbarkeit im Auge haben und Einzelfälle als Hinweis auf grundlegende Probleme recherchieren, wenn nicht Journalisten?

Fragefehler

Zu den verkehrten Volksweisheiten gehört, es gebe keine dummen Fragen. Aber natürlich gibt es die. Also genau genommen sich dumm darstellende Fragesteller. Sich selbst darf man alles fragen, das ist der normale Denkvorgang. Und genau diesen Vorgang verlangt der Respekt, bevor man sich mit Fragen an andere Menschen wendet, die womöglich die eigene Denkverweigerung offenbaren.

Im Journalismus gibt es die Kategorie Fragen, deren Erkenntnisinteresse womöglich zwar interessant, mit dem gewählten Rechercheweg aber nicht zu erreichen ist. In diese Kategorie gehören viele Fragen an Politiker. Können sie zur Beantwortung der Frage überhaupt etwas beitragen? Oder sind sie nicht allenfalls Papageien ihrer Fachberater, die man besser direkt befragen sollte, um Stille-Post-Effekte zu vermeiden? Ist zu erwarten, dass die befragten Politiker überhaupt wissen, was wir wissen wollen, und ist zu erwarten, dass sie sagen, was sie wissen?

Es wäre eine eigene Studie wert, dies mal im Hinblick auf Corona nur mit Gesundheitsminister Jens Spahn zu erheben. Was fragen Journalisten ihn nicht alles. Er ist Chef eines Ministeriums, als solcher kann er etwas dazu sagen, was sein Ministerium bisher getan hat und künftig tun wird. Das ist zwar eine Menge, aber weit weniger, als die Medien aus dem Munde Spahns berichten.

Viel abenteuerlicher aber ist das Medieninteresse an Karl Lauterbach. Dieser Politiker ist kein Chef eines Ministeriums. Er ist noch nicht einmal Mitglied geschweige denn Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Parlament. Er hat weder ein Mandat der Wähler noch ein Mandat des Parlaments, in besonderer Stellung zur Gesundheitspolitik zu sprechen. Er ist kein Corona-Experte und hat mit Forschung überhaupt seit langem nichts am Hut. Er ist eben Politiker, Bundestagsabgeordneter.

Aber die Medien haben ihn zum Erklärer sinnvoller Coronapolitik gemacht. Kein Pandemie-Ticker kommt ohne seinen Namen aus. Was immer Lauterbach auf Twitter von sich gibt, die Medien greifen es auf. Solange es irgendwie um Corona geht, ist Karl Lauterbach eine der relevanten Instanz. Da stört es auch nicht, dass in der Summe regelmäßig Verwirrendes dabei herauskommt. Beispiel "Oster-Lockdown". Morgens, als noch alle den Kopf schüttelten über das Konzept von Ministerpräsidenten und Kanzlerin, hätte sich Lauterbach mehr gewünscht.

Kaum hatte Angela Merkel jedoch einen kompletten Rückzieher gemacht, weil die "Osterruhe" "so nicht durchsetzbar" war (Armin Laschet), pflichtete Lauterbach bei. Experte Lauterbach hält also mehr und weniger Lockdown für gut und richtig (das Eingeständnis einer fehlerhaften Analyse ist jedenfalls nicht übermittelt). Und seine Expertise reicht für alles, selbst zur Einschätzung der Qualität von Gerichtsentscheidungen (was dem Deutschlandfunk einen eigenen Tweet wert war).

Auch Stimmungsbilder aus der Bevölkerung zeichnet der Journalismus oft mit schlicht dummen Fragen, etwa in der Form: Wie zufrieden sind Sie mit den Maßnahmen der Regierung? (ebenso in Österreich).

Was soll ein vernunftbegabter Mensch antworten? Doch wohl, dass er mit einigen Maßnahmen zufrieden ist, mit anderen unzufrieden und zu einer dritten Gruppe keine qualifizierte Meinung äußern kann. So ambivalent ist das Leben normalerweise, nicht aber die Medienrealität. (Die Medienforschung setzt diese brutale Weltvereinfachung übrigens fort und fragt mit derselben Naivität nach dem "Vertrauen in die Medien").

Der Hauptfragefehler bleibt aber wohl schlicht das Unterlassen. Für das Nichtstellen von nicht-dummen Fragen gibt es sicherlich viele Gründe, aber vor allem zwei treffen oft zu. Der eine Grund ist Desinteresse, der geflügelte Spruch dazu lautet: "Recherche kann die schönste Geschichte kaputt machen." Dass Frage-Desinteresse auch politisch motiviert sein kann, ist dabei keine Verschwörungserzählung. Der zweite Grund ist hingegen sicher unpolitisch, aber nicht weniger problematisch: Unverstand. Die Opposition zur dummen Frage ist die schlaue Frage. Für die muss man daher auch gerade besonders viel Denkarbeit leisten, bevor man sie stellen kann.

Kleines Beispiel: Auf eine Zuhörerfrage, wie sich ein Corona-Impfstoff bei Menschen verhält, die bereits aufgrund einer Infektion Antikörper gebildet haben, sagte Alexander Kekulé (pdf, S. 7): "Das ist eine sehr kluge Frage. Interessant, dass die jemand aus unserer Hörerschaft stellt, aber im politischen Raum nicht so diskutiert wird." Dabei könnte man "im politischen Raum" durchaus mit "von Journalisten" ersetzen.

Rechercheergebnisse veröffentlichen

Bei den hier unterstellten Recherchemängeln handelt es sich genau genommen nur um Publikationsmängel: denn dass Redaktionen all den spannenden Fragen nachgegangen sind, dann aber (trotz oder wegen der Ergebnisse) auf eine Veröffentlichung verzichtet haben, ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Doch sein Wissen nicht mit der Öffentlichkeit zu teilen kann ebenfalls ein Qualitätsdefizit sein:

Weil über die Relevanz von Informationen wiederum nur in einem Prozess unbeschränkter gesellschaftlicher Kommunikation entschieden werden kann, gibt es für Journalisten eine Grundpflicht zum Publizieren, pragmatisch: zu umfassender Berichterstattung. Sie entspricht in etwa der ärztlichen Grundpflicht zum Heilen.

Prof. Horst Pöttker, "Geheim, verdrängt, unbekannt - Lücken von Öffentlichkeit: Worüber Medien gern schweigen - und warum sie das tun", in "Medien und Zeit" 2/2014, pdf

Auf die so gewonnenen Erkenntnisse darf und muss sich der Journalismus freilich in späteren Fällen stützen, eben seine Relevanzkriterien präzisieren und ggf. auch ändern. Er soll die Öffentlichkeit nicht mit Belanglosem beschäftigen, aber auch nicht an ihrer statt entscheiden, was unterm Teppich bleibt. Dies gilt, wie an anderer Stelle dargelegt, insbesondere für Meinungen.

Zur Veröffentlichungspflicht kommt noch der Anspruch auf Zugänglichkeit oder Usability. Gerade die heutige Vielfalt an Medien und Distributionswegen verlangt nach guten Pfaden zu den relevanten Informationen. Doch statt redaktionell betreuter Listen, Kataloge, Übersichten gibt es überall "Ticker": die Präsentation der stets neusten Meldungen, die schon dem Namen nach redaktionell nicht weiter bearbeite werden, sondern auf die Bildschirme der Kunden "tickern". Ein Berliner Spiegel-Korrespondent beschreibt dieses Tickern von "Corona-Gipfeln" so:

Wenn fünfeinhalb Stunden getagt wird, findet man anderswo oft etliche Meldungen, die immer einen neuen Zoff-Stand abbilden. Da geht es meist nur darum, zu zeigen: Wir haben das Neue! Ob das wirklich immer Breaking News sind, ist eigentlich wurscht. Es geht um das Prinzip, live dabei zu sein. Es wird permanent das Gefühl erzeugt, da passiert gerade etwas.

Florian Gathmann im Interview mit Übermedien

Hier schlägt leider Aktualität (nicht in jedem Fall auch Neuigkeitswert) jedwede Irrelevanz. Doch wo sind die Listen mit Urteilen und Beschlüssen der Verwaltungsgerichte zur Pandemie-Politik? Immerhin besagt jede Entscheidung zugunsten klagender Bürger, dass die Herrschaft ihre Kompetenzen überschritten hat, dass Staatsmacht gehandelt hat, wie sie nicht handeln darf.

Wo sind die Übersichten des "realen Irrsinns" (wie das bei extra3 heißt), Sammlungen der vielen definitiv nicht evidenzbasierten Regelungen und Fallentscheidungen? Wo sind die Kostensammlungen, analog zum täglichen "Coronageschehen" auf einen Grafik-Blick?

Auskunftsverweigerung

Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die Auskunftsverweigerung. Eklatant ist sie bei zur Auskunft Verpflichteten, namentlich allen Behörden sowie "juristische Personen des Privatrechts, die von der öffentlichen Hand beherrscht und zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben, etwa im Bereich der Daseinsvorsorge, eingesetzt werden" (BGH, Urteil vom 16.3.2017 - I ZR 13/16). Für die Länder ergibt sich der Auskunftsanspruch der Presse aus den Landespressegesetzen, für den Bund mangels Zuständigkeit der Länder direkt aus dem Grundgesetz. (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013, - 6 A 2.12).

Belastbare Zahlen gibt es zwar derzeit nicht, aber die Betrachtung vieler Einzelfälle legt die Hypothese nahe, dass die meisten Behörden ihnen unangenehm erscheinende Journalistenfragen zumindest im ersten Anlauf nicht beantworten. Telefonische Auskünfte gibt es schon seit Telefax-Zeiten kaum noch, aus "Schicken Sie Ihre Fragen per Fax" ist ein "per Mail" geworden. Antwort kommt regelmäßig erst nach Tagen, oft nach erneutem Nachfragen, und ist nicht selten schlicht unbrauchbar.

Beikommen kann man solch latentem Rechtsbruch nur theoretisch: mit Klage vor dem Verwaltungsgericht. Praktikabel ist dies mit Blick auf Kosten und Ertrag freilich äußerst selten. Gängiger ist, die Auskunftsverweigerung in der Berichterstattung selbst zu thematisieren. Das setzt allerdings voraus, dass es überhaupt eine Berichterstattung gibt, was keineswegs garantiert ist, wenn wesentliche Informationen von Auskunftspflichtigen fehlen.

So hat Gunnar Schupelius in seiner "Ärger"-Kolumne bekannt gemacht, dass die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) beharrlich Auskunft verweigert, welche Patientengruppen eigentlich mit Corona auf den Intensivstationen liegen. Schupelius: "Diese Informationen wären wichtig, um zu wissen, wer denn die besonders gefährdeten Menschen sind."

Die folgenreichen Beratungen von Ministerpräsidenten und Bundeskanzlerin bleiben geheim. (Einiges von den geheimen Besprechungen ist nachzulesen im Buch von Katja Gloger und Georg Mascolo: Ausbruch - Innenansichten einer Pandemie/ Die Corona-Protokolle.) Teilweise werden Infektionszahlen nicht herausgegeben, teilweise wurden ministerielle Erlasse für top-secret gehalten.

Was Spahn und Merkel zum Umgang mit Forschungsergebnissen zum Corona-Impfstoff vereinbart haben: auch dazu gibt es keine Auskunft.

Auch die Wissenschaft behindert immer wieder die freie Information und damit Meinungsbildung, indem sie Journalistenanfragen ignoriert (siehe u.a. Teil 6). So beantwortete mit einem Schuss Realsatire die Pressesprecherin die Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Caroline Wichmann, die Frage nicht, wie viele Journalisten bei ihr nach belastbarem Datenmaterial zur 7. Ad-hoc-Stellungnahme vom 8. Dezember 2020 (pdf) nachgefragt haben.

Hintergrund: Das Positionspapier unter dem Titel "Coronavirus-Pandemie: Die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown nutzen" fand in den Medien ob der klaren Ansage und der Vielzahl unterzeichnender Wissenschaftler große Rezeption. Fachlich zu bieten hatte die Stellungnahme allerdings wenig. Jörg Phil Friedrichs Beitrag in der Welt spricht schon im Titel von einem "Desaster" (Print- und Online-Fassung unterscheiden sich!).

Friedrichs bezweifelt, dass "eine interdisziplinäre, gar transdisziplinäre Forschung zu Pandemie und Gesellschaft, die sicherlich dringend notwendig ist, gegenwärtig eine fünfseitige Zusammenfassung ihrer Ergebnisse vorlegen könnte".

Wenn ein wissenschaftliches Dokument dieser Kürze überhaupt sinnvoll zu einem aktuellen Geschehen Stellung nehmen soll, dann müsste es umfangreich auf gesicherte Studien verweisen und deren Gültigkeitsbereich und Aussagekraft für die Situation hier in Deutschland wenigstens andeutungsweise belegen. Die sogenannte Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina ist aber alles andere als ein wissenschaftliches Dokument, sie ist auch keine wissenschaftliche Zusammenfassung eines Forschungsstandes. Sie ist ein Sammelsurium von sorgenvollen Aussagen über die aktuelle Situation, kombiniert mit einigen drastischen Vorschlägen, die ihre Autorität daraus ziehen sollen, dass die Autoren nun einmal in leitenden Funktionen im Forschungsbetrieb tätig sind. Der wissenschaftliche Gehalt ist so gering, dass wohl jede aufmerksame Zeitungsleserin, jeder "Tagesschau"-Zuschauer und jede internetaffine Gymnasiallehrerin den Text hätte verfassen können, einschließlich der Diagramme [...].

Jörg Phil Friedrichs: Das Ad-hoc-Desaster, in Welt, 12.12.2020, S. 22

Da hätte es viel zu recherchieren gegeben. In der Berichterstattung zeigte sich das nicht. Ob die Kollegen es versucht haben, bleibt einstweilen der individuellen Spekulation anheimgestellt. Am Beispiel eines Berichts im Bayerischen Rundfunk kritisierte auch das Projekt "Medien-Doktor" der Journalistik an der TU Dortmund das Versäumnis, "unabhängige Experten zu zitieren und damit die vorgestellten Maßnahmen einzuordnen." Denn: Was die honorigen Professoren schreiben, ist schlicht ihre Meinung, kein Naturgesetz.

Um die Kritik rund zu machen: Auch Journalisten selbst blockieren Journalismus, indem sie Fragen von Kollegen nicht beantworten. Rückfragen zur Arbeit werden von vielen als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen, Kommunikationsabteilungen von Verlagen und Sendern erklären gerne, dass sie zu diesem und jenem grundsätzlich nichts sagen (etwa zu "laufenden Verfahren" oder "Personalentscheidungen").

Eine nicht ganz seltene Begründung für Gesprächsverweigerung lautet, damit könne man seine Brötchen nicht verdienen - was nicht unwitzig ist angesichts unseres journalistischen Geschäftsmodells, permanent andere Menschen mit Fragen zu löchern, für deren Beantwortung sie nichts außer einem "Dankeschön" erwarten dürfen. Just der stellvertretende Pressesprecher des Deutschen Journalistenverbands, Paul Eschenhagen, ließ gerade eine Rückfrage zu seiner Kommentierung der Qualität des Corona-Journalismus unbeantwortet.

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