Recherche schafft Relevanz
Seite 4: Wirkungen und Nebenwirkungen
Besonders schwer wiegt das journalistische Versäumnis, mögliche Nebenwirkungen der Corona-Politik zu recherchieren. Stattdessen wurde die Alternativlosigkeit ausgerufen: wenn es um Menschenleben geht, können und dürfen wir keine Abwägungen treffen. Das kann man als ethisches Dogma akzeptieren, es entbindet aber nicht von der Nebenwirkungs-Recherche. Sonst besteht die Gefahr, dass für die als alternativlos geltende Rettung von Menschenleben Menschenleben geopfert werden. Dass einzelne Nebenwirkungen gar nicht oder zumindest in ihrem Ausmaß nicht verlässlich abzuschätzen sind, darf nicht an ihrer Benennung hindern.
Eine der am nächsten liegenden Nebenwirkungen sind die Kosten, die doch sonst immer dem erhofften Nutzen gegenübergestellt werden. Mit der Parole, man dürfe Menschenleben nicht mit Wirtschaftsleistung verrechnen, hätte sich der Journalismus nie zufriedengeben dürfen. Zum einen, weil er selbst keine Entscheidungen zu treffen hat (sondern seine Kunden zu Entscheidungen befähigen soll), zum anderen, weil es diesen scheinbaren Dualismus gar nicht gibt. Denn letztlich werden natürlich auch alle Menschenleben in Euro umgerechnet, nicht erst bei Schadensersatz und Schmerzensgeld. Schutz und Heilung von Menschen erfordern in unserem Wirtschaftssystem immer Leistungen, die Geld kosten.
Damit steht dieses Geld zwangsläufig für andere Dinge nicht mehr zur Verfügung, u.a. eben nicht mehr für Schutz und Heilung von Menschen in anderen Situationen als Corona (weshalb Schulden auch "Zukunftsverzehr" genannt werden können).
Da hier, zum wiederholten Male sei es betont, nicht inhaltlich zur Corona-Politik argumentiert wird, soll es genügen, auf das große Recherchepotential hinzuweisen, welches hinter der Kosten-und-Nutzenanalyse steckt: Was kostet uns die Corona-Politik, was bringt sie uns, was wäre mit dem Geld sonst möglich gewesen und was ist aufgrund der gewählten Prioritätensetzung künftig nicht mehr möglich? Allein zur Nebenwirkung Kosten (= Schulden, weil Verzicht nie zur Debatte stand) wurde praktisch gar nicht recherchiert, das Problem wird offenbar ignoriert, weil es ja in der Zukunft liegt.
Es dauerte Monate, bis wenigstens die politische Opposition mal nach den Kosten fragte. Dabei gab und gibt es zahlreiche Anhaltspunkte zu Nebenwirkungen der Corona-Politik aus der Forschung - allerdings nicht aus der Virologie. Um nur einen recht frühen und mittlerweile sicherlich überholten zu nennen:
Während durch den "Lockdown" unter Berücksichtigung der Vorerkrankungen etwa 180.000 Lebensjahre gewonnen werden konnten, zeigt dieser Beitrag, dass das Aussetzen des medizinisch-technischen Fortschritts durch den Wachstumseinbruch mindestens 3,7 Millionen Lebensjahre kosten könnte.
Prof. Bernd Raffelhüschen, Abstract zu "Verhältnismäßigkeit in der Pandemie: Geht das?", Wirtschaftswissenschaftliches Studium 10/2020
Statt ein ums andere Mal Verschwörungstheorien hinterherzujagen hätten sich Journalisten solcher Berechnungen annehmen können. Doch ein Blick etwa in Spiegel, Süddeutsche und FAZ zeigt, dass Raffelhüschens Beitrag nicht aufgegriffen wurde (bei einzelnen anderen Medien allerdings schon).
Andere Wissenschaftler haben verlorene Lebensjahre durch entgangene Bildung errechnet oder auf Krankheit und Tod verweisen, die durch Unterbrechung globaler Lieferketten verursacht werden. Das alles hätte niemanden von der Zustimmung zur Corona-Politik abhalten müssen, aber um sich überhaupt intellektuell statt dogmatisch positionieren zu können, wären all solche Informationen über (mögliche) Nebenwirkungen notwendig gewesen.
Mit welchen Krankheiten und chronischen Defiziten ist zu rechnen, wenn Kinder drastisch reduzierte Sozial- wie Keimkontakte haben? Aus anderen Zusammenhängen wissen wir, wie verheerend sich vermeintliche Hygiene auf die Gesundheit auswirken kann (Beispiele: künstliche Muttermilch und Fäzes-kontaktlose Geburt durch Kaiserschnitt).
Welche Nebenwirkungen haben Kontaktverbote auf hospitalisierte Kinder, Jugendliche, Erwachsene, auf Demente und Schwergeschädigte? Was bedeutet es für die Sicherheit, wenn die Feuerwehr keine Übungen mehr durchführen darf? (Wenn es nichts bedeuten würde, dann immerhin doch, dass die bisherigen Übungen mit ihren Kosten und Risiken sowie Umweltbelastungen überflüssig waren.) Was bedeutet es für eine Generation, die sich ein Jahr lang nicht zum ersten Mal verlieben kann? Welche Gesundheitsfolgen hat es überhaupt, Menschen einzusperren (bzw. ihnen faktisch den - ggf. sonst betreuten - Aufenthalt im Freien zu verwehren)?
Auch über das Medizinische hinaus gab es zahlreiche Fragen zu den Nebenwirkungen, von Überwachung bis Alltags-Militarisierung. Aber die Qualität von Leben spielte in der Berichterstattung lange gar keine Rolle, alle Fragen und Bedenken galten als unbotmäßig. Was es gab, waren gelegentliche Einzelberichte, Einzelaspekte. Was bis heute fehlt sind Versuche, ein Gesamtbild zu zeichnen. Die mediale Erregung über #allesdichtmachen hat dies wohl mehr als deutlich gezeigt.
Gerichtsverfahren und -entscheidungen
Ein typisches Feld für notwendige aber regelmäßig unterlassene Recherche ist die Rechtsprechung. Da Gerichte nur stellvertretend für die Bevölkerung als Souverän handeln und daher "im Namen des Volkes" urteilen, ist eine fundierte journalistische Begleitung essentiell für die Rückbindung zwischen Judikative und Bürgern.
Gerichte sollen für die objektive, also faire und nicht-willkürliche Anwendung des Rechts sorgen, doch das Recht selbst soll in einer Demokratie von der Bevölkerung gesetzt werden. Veränderungen des Rechts sind jederzeit möglich; für die Prüfung vorhandener Regelungen oder vermeintlicher Regelungslücken braucht es die Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren, die deshalb als Kennzeichen von Rechtsstaatlichkeit gilt. De facto hergestellt werden kann die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren wirkungsvoll nur durch die Presse, in den Worten von Prof. Udo Branahl:
Ihre Informationsfunktion erfüllen die Massenmedien, wenn sie in ihrer Gesamtheit dem Publikum die Möglichkeit geben, sich ein eigenes, zutreffendes Bild von der Tätigkeit der Justiz zu machen.
Udo Branahl in "Justizberichterstattung", S. 17
Die Presse beschränkt sich jedoch vor allem im Lokalen meist auf die Beschreibung der Urteilsformel, bei Strafprozessen noch ergänzt um die mehr oder weniger detaillierte Erzählung der kriminellen Tat. Die Darstellung der Positionen verschiedener Parteien, Probleme oder Besonderheiten in der Verhandlungsführung, Lücken in der Argumentation etc. fehlen zumeist. Eine Auseinandersetzung mit dem schriftlichen Urteil, das erst Wochen oder Monate nach der mündlichen Kurzfassung vorliegen muss (§275 StPO), erfolgt nur äußerst selten, obwohl dies für die öffentliche Kontrolle der Justiz essentiell wäre. Selbst Nachrichtenagenturen begnügen sich regelmäßig damit, die Pressemitteilungen von Gerichten in Form zu bringen. So schrieb dpa zum Verkaufsverbot von Silvesterfeuerwerk:
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat das bundesweite Verkaufsverbot für Silvester-Feuerwerk bestätigt. Das teilte das Gericht am Montagabend (28. Dezember 2020) mit. Zur Begründung hieß es: Nach allgemeiner langjähriger Erfahrung sei damit zu rechnen, dass unsachgemäßer Gebrauch von Silvester-Feuerwerk zu akut behandlungsbedürftigen Verletzungen führe. Die Behandlung der Verletzten würde das zurzeit ohnehin stark in Anspruch genommene Krankenhauspersonal zusätzlich treffen und die Behandlung der zahlreichen Corona-Patienten potenziell beeinträchtigen
Welt, 28.12.2020; wortgleich u.a. bei Berlin.de
Keinerlei Eigenrecherche zu den Annahmen des Gerichts: Was hat die Infektiologie mit der Unfallaufnahme zu tun? Wieviel Personal aus anderen Abteilungen wurde in vergangenen Jahren wegen Böller-Verletzungen in die Chirurgie und Brandversorgung abgezogen? Wie ausgelastet ist derzeit "das Krankenhauspersonal" in Summe? (Nebenbei sei, weil dies regelmäßig Zeichen mangelnder Recherche ist, auf einen Formulierungsfehler hingewiesen: das OVG Berlin-Brandenburg konnte mangels Zuständigkeit natürlich gar nicht ein bundesweites Verkaufsverbot bestätigen.)
Gerade bei Eilverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, bei denen es keine Öffentlichkeit gibt, muss der Informationsjournalismus eigenständig recherchieren. Nicht nur, weil solche Beschlüsse gerade noch keine Urteile und damit letztendliche und juristisch für richtig gehaltenen Entscheidungen, sondern nur vorläufige Einschätzungen sind; die Kontrollfunktion der Presse verlangt, auch das Handeln von Robenträgern objektiv zu behandeln, und das heißt analog zur Arbeit von Schaffnern oder TÜV-Prüfern: immer mit dem Defizit zu rechnen, mit dem Fehler, der Regelwidrigkeit, einem Problem. Im vorliegenden Fall wäre mindestens zu recherchieren und darzustellen, wie die Fakten aussehen, die den Berliner Richtern aus "allgemeiner langjähriger Erfahrung" bekannt sind.
Wie viele Verletzte gibt es durch Silvesterfeuerwerk (ohne Partys, deren Verbot in dem Zusammenhang ja nicht angefochten wurde), welchen Anteil haben diese auf die Auslastung der Kliniken und wie weit tangieren diese Unfälle die medizinische und pflegerische Versorgung von Patienten auf den Inneren-, Intensiv- oder Infektionsstationen?
Es wäre jedenfalls keineswegs überraschend, wenn das Gericht sich mit den Fakten gar nicht beschäftigt hätte, weil viele Richter bei Fragen, die außerhalb ihres juristischen Fachgebiets liegen, auf ihre Meinung statt Fakten vertrauen (wie mustergültig in allen Presserechtsverfahren zu bestaunen ist, in denen Richter das intellektuelle Verständnis von Bürgern imaginieren). Aus eigener Recherche ist zu sagen, dass in Berlin alle schweren Böllerverletzungen im Unfallkrankenhaus landen, das mit Corona-Patienten überhaupt nichts zu tun hat. Ursache nahezu aller dort behandelten Verletzungen ist die Zündung nicht-legalen Feuerwerks, i.d.R. selbst gebastelter Sprengkörper.
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