Recherche schafft Relevanz

Seite 3: Recherche: das wichtigste Qualitätskriterium

Alle Qualitätskriterien für journalistische Beiträge lassen sich in zwei Bereiche zusammenfassen: Recherche und Vermittlung, also Themenaufbereitung und Themendarstellung, Input und Output. Was immer es an einem Artikel oder an einer Sendung zu kritisieren gibt, es wurden entweder nicht genügend präzise und richtig adressierte Fragen gestellt, oder die Präsentation der gefundenen Antworten ist missglückt.

Es gibt vielfältige Qualitätsprobleme der Recherche, die sich allesamt reichlich in der Corona-Berichterstattung finden: unterlassene Fragen, unsinnige Fragen, unvollständige Fragen, an die Falschen gerichtete Fragen, Fehlverständnis oder -interpretation erhaltener Antworten und Befunde.

Das größte Problem des Corona-Journalismus war und ist sein Rechercheverzicht. Genau das, was Journalismus ausmacht, was seine originäre Leistung ist, lag wochen- und monatelang im Tiefschlaf, bei einigen Medien bis zum heutigen Tag. Stattdessen ließen sich die Redaktionen völlig vom Input-Angebot bestimmen. Damit haben sie – vermutlich unbewusst – die entscheidenden Weichen für das demokratische Diskurslevel gestellt (dazu ausführlicher im kommentierenden Resümee des achten und letzten Teils). Was waren die ersten und grundlegenden Fragen?

  • Welche Möglichkeiten hat die Politik, eine Pandemie zu bekämpfen, einzugrenzen, zu handeln? Politiker selbst sehen naturgemäß wenig Limitierung, aber allmächtig sind sie nicht.
  • Wie reagiert Herrschaft in vergleichbaren Fällen? So einzigartig, wie stets behauptet, ist die Pandemie schließlich nicht. Unter anderem war dringend angeraten zu recherchieren, wie Politik und Verwaltung sehr routiniert Tierseuchen managen (was auch vor Corona längst hätte ein großes Thema sein müssen, das auch viel Skandal-Potential hat). Das Einsperren ohne Rücksicht auf Verluste gehört bspw. zum Standardrepertoire, ebenso die als Prophylaxe verkaufte, tatsächlich wohl rein marktwirtschaftlich getriebene massenhafte Tötung gesunder Tiere. Eine Beschäftigung mit Sinn und Unsinn, mit dem Vollzug von Regeln stur nach den Buchstaben der Gesetze und Verordnungen ohne jede menschliche Regung, hätte mannigfache Hinweise gegeben, worauf die öffentliche Kontrolle bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie ein besonders waches Auge haben muss.
  • Welche demokratischen Grenzen stehen tatsächlich den politischen Handlungsmöglichkeiten entgegen, welche könnten oder sollten sie einhegen? Es geht dabei nicht um die Grenzen der Legalität (die sich die Politik qua Verfassungs- und Gesetzgebung selbst schafft), sondern der Legitimität. Längst nicht alles, was rechtlich möglich ist, ist auch gesellschaftlich opportun. Genau darüber hätte die Gesellschaft intensiv diskutieren müssen, und dafür hätte es gut recherchierte Medienbeiträge gebraucht.
  • Welche Nebenwirkungen werden Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung haben, welche sind möglich, welche wahrscheinlich?

In Wirklichkeit sind das natürlich keine coronaspezifischen Fragen. Vom Thema abstrahiert gehören sie viel mehr ins Vorfeld aller politischen Handlungen: Wie weit ist die Politik ("der Staat") überhaupt zuständig, welche Optionen haben die Herrschenden, welche Grenzen will ihnen der Souverän setzen und welche negativen Begleiterscheinungen ist die Bevölkerung bereit zu tragen, welche Nebenwirkungen kann und darf sie unbeteiligten Dritten aufbürden?

Die Parolen der Politik gingen über diese von den Medien nicht gestellten Grundsatzfragen ohne Zaudern hinweg, Motto: Was immer nötig ist, was immer es kostet, wir werden es tun. Lapidar heißt es in Gesetzentwürfen regelmäßig, die finanziellen Auswirkungen seien nicht zu beziffern und Alternativen zum vorgelegten Gesetz gebe es nicht.

Die große Zustimmung der Bürger zu dieser Machtproklamation ist keinerlei Entschuldigung für die Leistung des Corona-Journalismus. Zum einen wäre es ein Zirkelschluss, aus der Zustimmung einer uninformierten Bevölkerung abzuleiten, dass sie von Alternativen und Machtbeschränkungen nichts wissen will. Zum anderen ist Journalismus grundsätzlich nicht dazu da, Mehrheiten in ihrem Weltbild zu bestätigen, sondern Irritationen anzubieten. Nur durch Antwortangebote auf unbequeme Fragen kann Journalismus Gesellschaften bei der Orientierung helfen. Information (und Kommentierung) mit dem Ziel einer konkreten Verhaltensweise der Bevölkerung ist hingegen PR (bzw. altmodischer und deutlicher: Propaganda) und führt von außen betrachtet zum Kuba-Syndrom.

Recherche: die Verfassung-Grundfragen

Interessante Fragen zu den Rahmenbedingungen der Pandemiepolitik kamen in erster Linie nicht von Journalisten, sondern von Juristen. Es sind die Paragrafenreiter, die den Gesellschaftstrott stören können - allerdings nur selten mit neuen Ideen, vielmehr mit Verweis auf die bestehenden, derzeit gültigen.

Der Verfassungsblog etwa ist voll mit Fragen und Überlegungen zur Corona-Politik, und wir haben dort ausgerechnet einem Kirchenjuristen die Warnung vor einem "faschistoid-hysterischen Hygienestaat" zu verdanken. Doch in die General-Interest-Medien schaffen es diese juristischen Fachdebatten im Gegensatz zu den medizinischen nur sporadisch (z.B. Prof. Hinnerk Wißmann in der Welt, übernommen vom Verfassungsblog, oder Prof. Josef Franz Lindner in der Zeit).

Solche Rechtsfragen haben auch Redaktionen aufgegriffen, doch in den meisten Fällen nur abstrakt, nach dem Motto: Ja, es gibt Grenzen für staatliches Handeln in der Pandemie, aber bisher ist alles im Lot (Beispiel: Tagesschau). Angezeigt aber war, aktiv und konkret nach der Diskussion um die Grenzen zu suchen und Grenzüberschreitungen zu thematisieren.

Von der dogmatischen Grundlage her war stets klar: Grundrechtseingriffe müssen verhältnismäßig sein, und das bedeutet nach Auslegung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), dass ein legitimer Zweck mit einem legitimen Mittel verfolgt wird, das geeignet, erforderlich und angemessen ist. (Literaturtipp: "Not und Gebot – Grundrechte in der Quarantäne" von Heribert Prantl, eine leicht bearbeitete Sammlung seiner Kolumnen aus den letzten zwölf Monaten.)

Es genügt nicht, irgendeinen Experten oder Lobbyisten nach seiner Meinung zu fragen und damit die Kritik abzuhaken. Hier sei als eindrückliches Beispiel nicht auf ein General-Interest-Medium verwiesen, sondern auf eine viel zitierte "Plattform für digitale Freiheitsrechte": Im März 2020 erklärte Netzpolitik.org mit Berufung auf eine Juristin der "Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V.", allgemeine Ausgangssperren seien mit Berufung auf eine Generalklausel im Infektionsschutzgesetz denkbar, "wenn wir jetzt merken, dass die Verlangsamung der Ausbreitung des Virus mit den aktuellen Regelungen nicht klappt, dass die Menschen sich nicht an das Social Distancing halten und der Tod vieler Menschen droht".

Die Freiheitsjuristin erklärt, "das sei möglich, wenn Virolog:innen eine 'große Erforderlichkeit' einer solchen, drastischen Maßnahme feststellen." Abgesehen davon, dass diese Aussage fachlich wohl nicht haltbar ist (denn Virologen können sagen, welche antiviralen Maßnahmen geeignet sind, nicht aber, welche erforderlich und welche angemessen sind, wie Prof. Horst Dreier in einer Vorlesung erläutert): Die journalistische Recherche hätte an dieser Stelle nicht enden dürfen.

Wenn eine "Gesellschaft für Freiheitsrechte" gar keine Bedenken gegen die größte Einschränkung von Freiheitsrechten seit Bestehen der Bundesrepublik hat, ist das Anlass, diese zu fragen, bei welchem Grad von Freiheitsentzug sie aufmucken würde, und weiter nach Juristen zu suchen, die der "Gesellschaft für Freiheitsrechte" widersprechen. Das ist weder eine Ex-Post-Forderung noch ein "Querdenker"-Wunsch, sondern eine schlichte Handwerksregel: Jede Meinung, insbesondere die der Regierungen, braucht eine Gegenposition. Wenn intensive Recherche ergibt, dass alle Regierungskritik Kokolores ist, dann werden die Leser, Hörer, Zuschauer schon ganz alleine zu diesem Schluss kommen.

Wird ihnen jedoch der kritische Part erspart, sind sie nicht vollständig informiert und Fantasie wie Propaganda haben ein Betätigungsfeld. Juristische Fragen wurden allerhand aufgeworfen, sie fanden jedoch nur selten ihren Weg in die Medienwirklichkeit.

Alles infrage stellen

Die einfachste der unangenehmen Fragen gehört hinter jede noch so alltägliche Aussage und sollte durch das derzeit populäre "Factchecking" geläufig sein: "Ist das so?" Stimmt das, was da jemand behauptet oder was ich als Journalist gerade selbst verbreiten möchte? Anstatt sich über Bestätigung zu freuen, sollten sich Journalisten glücklich schätzen, je öfter sie eine geglaubte Wahrheit falsifizieren können. Was hätte man nicht alles infrage stellen müssen! Zum Beispiel diese fünf Floskeln, die wie Naturgesetze gehandelt wurden.

1.) "Die Pandemie trifft uns alle unvorbereitet." Womit haben dann Zivil- und Katastrophenschutz gerechnet, wenn eines der nächstliegenden, statistisch wahrscheinlichsten Szenarien gar nicht vorbereitet war? Für 17 zuständige Innenministerien, ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz bis hin zu den Katastrophenschutzeinheiten bei jeder Freiwilligen Feuerwehr und jedem Rot-Kreuz-Verband soll eine Virus-Epidemie nicht zum Szenario gehört haben?

2.) "Wir fahren auf Sicht." Mit dieser in der Anfangszeit viel gebrauchten Floskel wurde die Sprunghaftigkeit der Politik begründet. Man könne eben nicht weit nach vorne schauen. Doch "fahren auf Sicht" bedeutet, so langsam zu fahren, dass unerwartete Hindernisse nicht zum Unfall führen, die Sichtweite zum Bremsen reicht. Tatsächlich aber glich die Politik eher einem Stochern oder Schießen im Nebel, bei dem man sich überraschen lässt, wen es dabei trifft und wie Getroffene reagieren werden.

3.) "Jeder Tote ist einer zu viel." Diese bekannte Floskel klingt gut, ist aber ganz objektiv betrachtet Unsinn. Gemeint sein kann nur, dass jeder vermeidbare Tod einen Toten zu viel geschaffen hat – aber das ist eben nicht nur sprachlich banal. Der Tod ist bisher nicht abschaffbar, er ist daher unvermeidlich – nur terminlich manchmal verhandelbar.

Jeden einzelnen Todesfall pauschal als gesellschaftliches Unglück, ja gesellschaftliches Versagen darzustellen, das mit allen Mitteln hätte verhindert werden müssen, ist daher Ausdruck von Allmachtsvorstellungen, in vielen Fällen gepaart mit Paternalismus (denn die Behauptung schließt aus, dass viele Menschen in einem bestimmten Alter und Krankheitszustand ihren Tod sehnlichst erwarten). Gerade eine so moralisch gut klingende Floskel hätte dem Journalismus Rechercheauftrag sein müssen. Doch wie wir aktuell bei #allesdichtmachen sehen können, ist sie immer noch gut genug für das Gefühl moralischer Überlegenheit.

4.) "Es ist die Zeit der Virologen." Auch diese Parole haben viele Menschen verinnerlicht und käuen sie bis heute wieder, weil sie nicht von Anfang an recherchierend infrage gestellt wurde: Was können Virologen eigentlich zu einer Virus-Pandemie sagen? Welche Expertise haben sie? Das sind nicht die Fragen von Besserwissern, sondern von Suchenden. Der Staatsbürger darf ohne nachzudenken jedem Heilsverkünder hinterherlaufen, ihm blind vertrauen oder ihn wählen und mit Vertretungsvollmacht ausstatten. Journalisten hingegen müssen in ihrer Berufsrolle alles und jeden infrage stellen und die Resultate dieser Recherchen der Öffentlichkeit anbieten – was immer diese dann damit anfängt.

Sicherlich haben Virologen von Pandemiebekämpfung mehr Ahnung als der Bevölkerungsschnitt. Aber was Kontaktbeschränkungen aller Art (Lockdown/ Social Distancing) neben einer Verringerung des Infektionsrisikos noch alles bedeuten, davon haben Drosten, Brinkmann oder Ciesek keine Ahnung, dazu haben sie nie geforscht, es ist überhaupt nicht ihr Wissenschaftsbereich. Und wenn sie sich nun seit einem Jahr intensiv mit Lockdown-Maßnahmen beschäftigen, dann nicht mit mehr Expertise als Physiker, Biologen, Psychologen, Ökonomen, Soziologen etc.

5.) "Krisen sind Zeiten der Exekutive." Ja, aber gerade nicht in Form ständig neuer Verordnungen, nicht in Form von Bund-Länder-Konferenzen, die ohne demokratische Konsultation ständig neue Maßnahmen beschließen. Sondern ausschließlich in der Form, dass nach den zuvor für genau einen solchen Krisenfall festgelegten Regeln gehandelt wird.

Geschehen ist bekanntlich etwas ganz anderes: Die Regeln wurden fortlaufend und in bis dahin unbekanntem Ausmaß geändert. "Krisen sind Zeiten der Exekutive" gelesen als "Krisen geben der Exekutive einen autoritären Freifahrtschein" ist zumindest kein Allgemeinwissen und hoffentlich nicht mehrheitsfähig, in jedem Fall aber eine Behauptung, zu der Journalisten jede Menge zu recherchieren hätten.

Fragen statt Framen

Durch die Medien geistern viele Schlagworte, die mehr offene Fragen als Fakten enthalten. Doch ihre Verwendung suggeriert Wahrheiten, zu denen es angeblich nichts mehr zu recherchieren gibt. Was soll es bedeuten, wenn "das öffentliche Leben heruntergefahren wird"? Wer oder was geht da wie ein Computer in Stand-by? Sind Familientreffen "öffentliches Leben"?

Eigentlich ist die Notbremse abgesprochen, aber die Regierung in Düsseldorf will ihre Corona-Maßnahmen noch nicht landesweit verschärfen. Es sollen stattdessen nur Mini-Notbremsen für Kommunen mit hoher Inzidenz gelten.

Teaser eines Spiegel-Berichts am 26. März 2021

Ob "das gute Kita-Gesetz" oder derzeit die "Notbremse", solche Begriffe zeugen im Journalismus von unterlassener Recherche. Welcher Zug soll mit einer Notbremse wo zum Halten gebracht werden? Und wie geht es dann weiter? Was ist eine "Mini-Notbremse" (eine für Kinderhände oder eine in der Modelleisenbahn?) und wie kann sie "gelten"? Es ist nicht nur ein schiefes Sprachbild, das man dem Geschmack anheimstellen könnte.

Die "Notbremse" ist ein PR-Begriff, der im Journalismus durch Informationen ersetzt werden muss. Die inzwischen in Gesetz gegossene "Notbremse" kann und darf im Journalismus so nicht heißen. Natürlich ist der Original-Titel auch weder schön noch objektive Beschreibung des Inhalts: "Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite". Aber immerhin heißt es so, und den Begriff "Notbremse" wird man darin vergeblich suchen. "Notbremse" ist ganz simpel politisches Framing, die darin verborgene Politik ist wie immer umstritten (siehe Teil 6).

Dass Redaktionen selbst dann auf Fragestellungen verzichtet haben, wenn ihnen schon die Antworten dazu angeboten wurden, zeugt von besonderem Desinteresse an Aufklärung. Nur wenige Journalisten outen ihre vergeblichen Versuche, aber beispielhaft dürfte sein, was Arno Luik gerade anlässlich eines "Manifests der offenen Gesellschaft" nochmal aufgerufen hat:

"Eine kleine, persönliche Geschichte: Meine Schwester ist schwer krank. Sie muss nun umziehen in betreutes Wohnen. Ihre Kinder helfen ihr beim Umzug. Ein paar Enkelkinder sind dabei, tollen herum (wo sollen sie auch hin?), helfen ein bisschen beim Packen, da kommen Nachbarn (die meine Schwester seit Jahrzehnten kennen) und sagen: 'Das geht nicht, dass diese Kinder hier rumspringen. Das verstößt gegen die Auflagen. Sorgen Sie dafür, dass die sofort weggehen. Oder wir holen die Polizei.' Deutschland, im Frühjahr 2020." So fing ein Essay zum Thema Corona an, den ich genau vor einem Jahr auf Wunsch eines Wochenmagazins schrieb, das sich als "kritisch und links" versteht. Die Redaktion lehnte nach mehreren Abstimmungen den von ihr bestellten Text, der sich mit den Nebenwirkungen der Corona-Maßnahmen befasste, schließlich ab, unter anderem mit dieser Begründung: Es sei "derzeit nicht opportun, die Regierungspolitik zu kritisieren".

Arno Luik im Freitag, 25. März 2021

Luiks Essay ist dann auf den Nachdenkseiten erschienen. Beim Kontext Wochenmagazin hingegen findet man seit dieser Begebenheit keinen neuen Beitrag von ihm. Dass kritische Beiträge zur Corona-Politik von Redaktionen abgelehnt wurden, berichten zahlreiche Autoren, die mit anderen Themenangeboten in denselben Medien veröffentlicht werden.

Absurditäten als Rechercheaufträge

Was der Kultur-Journalist Andreas Rosenfeld zur Medienkritik am Corona-Journalismus schrieb, trifft auf den Journalismus zur gesamten Pandemie-Politik zu:

Statt den richtigen Impuls aufzunehmen, den auch die falscheste Kritik für den klugen Interpreten bereithält, stellten sie [die Medien] sich verteidigend vor das politische System, als dessen Repräsentanten sie vom Mob auf der Straße angesprochen wurden - und verhielten sich so, als träfe der Vorwurf zu.

Andreas Rosenfelder in: Die Regierungssprecher (Welt vom 5. Januar 2021)

Positiv gewendet: Jede noch so "krude" Meinung, Kritik oder Idee ist ein Rechercheauftrag für den Journalismus. Manches lässt sich dabei schnell erledigen und fürderhin ignorieren, aber nie ohne fundierte Antwort auf die Generalfrage: "Ist das so?" bzw."Stimmt, was ich persönlich für wahr halte?".

Doch mit einer weit verbreiteten Substitution von Recherche durch Meinung, Glauben oder eine Art Wissensgefühl hat der Journalismus den Faktenkorridor von Anfang an extrem verengt. Als diskutierbar gilt nur weniges, als 'krude Verschwörungstheorie' der Rest. Als Beispiel sei auf den Artikel "Hinter der Verschwörung" beim Spiegel verwiesen.

Natürlich gibt es Menschen, die völlig unbewiesene, ja sogar wissenschaftlich widerlegte Behauptungen für wahr halten. Das ist aber angesichts von über fünf Milliarden Menschen, die einer der großen Religionsgemeinschaften zugeordnet werden, nichts Besonderes, sondern in diesem Rahmen akzeptierter Ausdruck des Rechts auf eine eigene Persönlichkeit, die noch keinen TÜV bestehen muss. Man darf auch auf Homöopathie hoffen und Freitag, den 13. für eine Unglücksstelle im Kalender halten; oder seinem Lieblingsverein die Daumen drücken.

Alles das wird von den Massenmedien bisher nicht pathologisiert, vielmehr wird Respekt eingefordert (aus demokratietheoretischer Sicht: zurecht). Wenn sich Journalisten nun objektiv (siehe Teil 6) mit all dem beschäftigen würden, was sie für krudes Zeug halten, bliebe genügend Material, das als Angebot zur Orientierung eine journalistische, also recherchierende Aufarbeitung verlangt. Natürlich wachsen mit 5G die Überwachungsmöglichkeiten, natürlich hat die Gates-Stiftung Einfluss auf die WHO, natürlich verfolgt jeder Mensch, der in der Öffentlichkeit steht, auch Eigeninteressen.

Die tatsächliche Gefahr (gemessen in Erkrankten und Verstorbenen) von Covid-19 lässt sich heute noch nicht abschätzen (regelmäßig wird die Letalität des neuen Virus aufaddiert, nicht aber die Letalität der Vergleichs-Viren), natürlich wurde mannigfach der Ruf nach Zwangsimpfungen laut, - um nur zwei "Verschwörungstheorien" aus dem Spiegel-Beitrag als Rechercheauftrag zu benennen.

Es ist leicht, sich über den Begriff "Corona-Diktatur" zu echauffieren, und wenn er von sechs Menschen zum "Unwort des Jahres" ernannt wird, ist das eine Tatsache – aber noch nicht die Wahrheit. Viele Diktate und Diktaturen werden von Lobbyisten beklagt, die Diktatur des Geldes etwa.

Natürlich diktiert bei der "Corona-Diktatur" "Corona" selbst nichts, aber Rosenfelder folgend könnt man mal zusammentragen, was derzeit alles von der Politik mit Corona begründet wird, was als zwingend notwendig und daher nicht verhandelbar zur Pandemie-Bekämpfung gilt, von Pop-up-Bikelines über das Verbot für Feuerwehren, das Retten zu üben, bis zur monatelangen Isolation im Altenheim, auch über die Impfung hinaus.

Die Floskel, Corona zwinge uns zu irgendetwas oder verlange uns dies und jenes ab, bleibt meist unbeanstandet. "Corona-Diktatur" klingt da etwas fescher und ist so gelesen weit entfernt von Verschwörungen oder Demokratiefeindlichkeit. Weniger zur Recherche (hoffentlich) und mehr zur Darstellung gehört dabei, dass wie in der verlinkten Nachricht des Südwestrundfunks (SWR) als Urheber der Kür nur von einer "unabhängigen Jury" die Rede ist, als sei diese gerichtsgleich. Wie u.a. beim Aspekt der "Objektivität" ausgeführt wäre hier zu fragen (= recherchieren), wie es um die Bewertungskriterien bestellt ist, um die Kompetenz der Juroren, um die Bedeutung ihrer Befunde.

Aber das "Unwort des Jahres" hat einen festen Platz in der Berichterstattung ergattert, und eine persönliche Prognose lautet: solange kein "Unwort" "den Journalismus" insgesamt trifft, wird das Interesse daran anhalten. Ob solche Meldungen auch relevant sind? Dazu gleich.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.