Rechtsoffenheit in der Friedensbewegung – Kampfbegriff oder reales Problem?

Seite 2: Ausweitung der diskursiven Kampfzone

Dieser Missbrauch ist Begleiterscheinung der krisenbedingten Polarisierung und des Verfalls demokratischer Diskussionskultur in vielen Gesellschaften. Die Mutation von Begriffen zu Kampfbegriffen wird in erster Linie in der sog. Mitte der Gesellschaft und von ihren Funktionseliten betrieben.

Das fängt an mit der Inflation von Hitler-Vergleichen. Milosevic, Saddam Hussein, Gaddafi, Putin – alles Wiedergänger Hitlers. Der polnische Ministerpräsident Morawiecki lehnt Verhandlungen mit Russland mit dem Argument ab: "Würden sie mit Hitler verhandeln?" Und der Ukraine-Krieg wird bar jeder Kenntnis des Nazi-Krieges im Osten auch in der sog. Qualitätspresse als "Vernichtungskrieg" etikettiert.

Vorläufer einer solchen Banalisierung und Begriffsentleerung erleben wir seit Jahren mit dem Antisemitismusvorwurf. Wer war da nicht schon Zielscheibe: Obama, Goethe und Schiller, die UNO, der Corona-Beauftragte der israelischen Regierung, die Anhänger einer Finanztransaktionssteuer, der EuGH, Fridays for Future u.v.a.m. Ein Beispiel, das besonders schön in diesen Kontext passt, ist die Unteilbar-Demo 2018 mit über 200.000 Teilnehmern, über die das Springer-Blatt Die Welt behauptet, sie sei "von Antisemitismus-Vorwürfen" überschattet (Welt Online, 17.10.2018).

An dem Fall wird auch ein weiteres Merkmal des inflationären Gebrauchs solcher Kampfbegriffe sichtbar: ihre Protagonisten maßen sich gern die Definitionshoheit über Antisemitismus, Faschismus, Rassismus u.ä. an, Themen, über die in den Sozialwissenschaften auch Fachleute kontroverse Debatten führen, wie z.B. zwischen den Anhängern der Jerusalemer Definition von Antisemitismus und jener der International Holocaust Remembrance Alliance. Es besteht kein Anlass, sich von der arroganten Indienstnahme dieser Begriffe durch einige linke Milieus ins Bockshorn jagen zu lassen.

Unberührt davon ist, dass es natürlich real Faschisten, Antisemiten etc. gibt, gegen die sich demokratisch gesinnte Menschen klar positionieren müssen. Eine Friedensbewegung, die ihre humanistische Grundhaltung ernst nimmt, kann sich aber leichtfertige Zuschreibungen nicht leisten.

Esoterik ist ein Massenphänomen

Noch glitschiger wird das Terrain mit einigen neue Kreationen im Arsenal der Kampfbegriffe: Verschwörungstheorie bzw. -ideologie, Wissenschaftsfeindlichkeit, Irrationalismus und Esoterik. Zunächst muss man festhalten, dass sie in einer anderen Liga spielen als Faschismus und Antisemitismus. Eine Gleichsetzung bedeutet pure Verharmlosung. Zwar sind sie oft Teilmomente von Faschismus und Antisemitismus, aber diese haben kein Monopol darauf.

Man findet sie millionenfach in der Gesellschaft. Ein Beispiel: in den programmatischen Schriften von Christen, Juden und Muslimen – Bibel, Koran, Thora sowie den Edikten ihrer Päpste, Oberrabbiner und Imame – wimmelt es nur so von Irrationalismus und Esoterik. Würde man diese Ausgrenzungskriterien konsequent anwenden, dürften zukünftig Demos mit mehr als hundert Leuten sehr selten werden.

Und vor allem liefern auch hier die Herrschaftsmilieus das Vorbild, z.B. für Verschwörungstheorien. Wenn Hillary Clinton ihre Wahlniederlage gegen Donald Trump einer Kampagne des Kremls zuschreibt, Emmanuel Macron bei einem Hackerangriff auf seinen Wahlkampfcomputer schon nach einer halben Stunde genau weiß, dass die Bösewichte Russen sind, oder der Grüne Anton Hofreiter jüngst zur Erklärung des BREXIT den Einfluss "russischer Desinformation" heranzieht (Die Welt, 25.7.2023; S.4), dann ist das nur die Spitze des verschwörungsideologischen Eisbergs. In den Leitmedien werden solche Fake News meist unkritisch übernommen.

Auch hier gibt es, wie beim Thema Rechtsoffenheit, eine Konvergenz zwischen Mainstream und sich als links verstehenden Gruppen, wie z.B. den sog. Antideutschen, deren Ideologie in einige Organisationen der Friedensbewegung Eingang gefunden hat.

Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sozialen Medien und alternativen Informationsquellen im Internet. Sie stellen die Informations- und Interpretationshoheit der etablierten Massenmedien und staatlicher Stellen in Frage. Das bietet neue Möglichkeiten für kritische Gegenöffentlichkeit von links, aber auch für viel Irrationales sowie Propaganda von rechts. Dennoch darf die Entscheidung, was Fake-News sind, nicht den Leitmedien und der staatstragenden Politik überlassen werden.

Praktische Konsequenzen

Die Erfolge der AfD sind ein ernstes Problem. Hinzu kommt für die Friedensbewegung die Schwierigkeit, dass die AfD – anders als die postfaschistische Regierungschefin Italiens, die stramm auf Nato-Linie liegt -, für den Stopp von Waffenlieferungen und Sanktionen sowie einen Verhandlungsfrieden mit Russland eintritt. Das tut sie nicht aus anti-militaristischen oder friedenspolitischen Motiven. Denn abgesehen davon, dass sie damit Protest gegen den regierungsamtlichen Bellizismus auf ihre parteipolitischen Mühlen lenken will, setzt sie sich zugleich für Aufrüstung und eine starke Bundeswehr ein.

Es ist klar, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD, ihren Unterorganisationen und ihren Funktionären gibt. Das gleiche gilt für Kräfte, die gezielt eine Querfront zwischen der extremen Rechten und Linken propagieren, wie Jürgen Elsässer mit seiner Zeitschrift "Compact". Entsprechendes gilt natürlich für andere Rechtsextreme (NPD, ihre Nachfolgeorganisation etc.).

Keine Zusammenarbeit heißt: keine gemeinsamen Aufrufe bei Straßenaktionen, keine Redebeiträge von rechtsextremen Personen, die Unterbindung – soweit möglich – von entsprechenden Transparenten und Symbolen, bei Publikationen und Online-Medien keine Auftritte in AfD-Medien.

Schwieriger ist die Situation bei Podiumsdiskussionen/Talk-Shows, die von dritter Seite organisiert werden. In diesem Fall ist eine Teilnahme legitim, um der AfD u.ä. nicht das Feld zu überlassen. Dabei muss auf die Motive der extremen Rechten hingewiesen und das eigene Profil in deutlicher Abgrenzung herausgestellt werden.

Die Friedensbewegung darf sich nicht instrumentalisieren lassen, auch nicht von politischen Parteien für ihre Wahlkampagnen. Natürlich ist es gut, wenn Mitglieder aus Parteien, die nicht unter die o.g. Kriterien für Rechtsextremismus fallen, die Friedensbewegung unterstützen. Doch die Friedensbewegung muss stets unabhängig sein und ihr eigenes Profil immer deutlich herausstellen.

Es hat sich eine Protestlandschaft entwickelt, die in vielen Fällen keine Instrumentalisierung der Friedensfrage anstrebt, sondern friedenspolitisch motiviert ist. Damit sind jene Kräfte gemeint, die oben als politisch nicht determiniert skizziert wurden.

Es sind Einzelpersonen, aber auch organisierte Bürgerinitiativen, die ihre Wurzeln ursprünglich in anderen Themen haben, z. B. den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen. Kooperation mit solchen Gruppen und Menschen unter der Voraussetzung klarer Absprachen über Inhalte und Formen einer gemeinsamen Aktion sind dabei notwendig. So wie eine katholische Organisation zur Zusammenarbeit willkommen ist, solange sie andere nicht zur unbefleckten Empfängnis Mariä bekehren will, so ist ein anthroposophischer Impfgegner willkommen, solange er sich auf gemeinsame friedenpolitische Positionen konzentriert.

Es werden sich nicht alle Eventualitäten vorab in Regelungen erfassen lassen. Daher ist die ständige Überprüfung von Erfahrungen mit der hier umrissenen Strategie und Taktik notwendig, um ggf. Korrekturen vornehmen zu können. Das bedeutet allerdings nicht, sich auf Methoden einzulassen, mit denen in geradezu geheimdienstlicher Manier vermeintlich verdächtigen Kontakten nachgespürt wird, um sie dann bei passender Gelegenheit zu skandalisieren. Damit wird ein Klima des Verdachts und der Denunziation erzeugt. Zumal die dabei gewonnen "Erkenntnisse" sich immer mal wieder als Fake herausstellen.

Konfrontative Abwehr gegen alles, was nicht die – wie immer definierte – reine Lehre ist, endet letztlich in sektenhafter Selbstisolierung von den Realitäten unserer Gesellschaft. Eine Zusammenarbeit mit Kräften, die die Anliegen der Friedensbewegung teilen und nicht dem faschistischen/rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind, sollte deshalb angestrebt werden, wenn wir breitere Kreise der Gesellschaft, die jüngere Generation und die bitter notwendige politische Wirkung erreichen wollen.

An der Abfassung dieses Textes waren beteiligt: Yusuf As, Reiner Braun, Wiebke Diehl, Andreas Grünwald, Claudia Haydt, Rita Heinrich, Jutta Kausch-Henken, Ralf Krämer, Willi van Ooyen, Christof Ostheimer, Hanna Rothe, Peter Wahl.