Redefreiheit gegen Gewalt

Bjørn Ihler, der vor einem Jahr dem Massenmörder anders Breivik entkam, will mit seinem Centre for Free and Creative Expression neue Wege in der Bekämpfung von Extremismus gehen

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Im Kampf gegen Terror wurden in den letzten Jahrzehnten vor allem zwei Instrumente eingesetzt: Überwachung und die Verhinderung oder Unterbindung von Äußerungen. Führt man sich die Morde der deutschen Terrorzelle NSU oder die des Norwegers Anders Breivik vor Augen, scheint allerdings zweifelhaft, ob diese Wege nicht bloß diejenige sind, mit denen Politiker und Behörden am einfachsten Tatkraft demonstrieren können.

Das fragt sich zumindest der norwegische Sozialdemokrat Bjørn Magnus Jacobsen Ihler, der am 22. Juli letzten Jahres an einem Feriencamp seiner sozialdemokratischen Arbeiderpartiet auf einer Insel im Tyrifjord teilnahm, das der (nach eigenen Angaben politisch motivierte) Massenmörder Anders Breivik schwer bewaffnet stürmte und dabei 69 Menschen erschoss. Acht weitere kamen bei einem von ihm verübten Sprengstoffanschlag ums Leben.

Um neue Wege in der Bekämpfung politisch motivierter Gewalt zu erkunden, will Ihler mit dem von ihm gegründeten Centre for Free and Creative Expression nicht nur die Redefreiheit von Künstlern in autoritären Staaten stärken, sondern auch Diskussionen veranstalten, an denen Extremisten teilnehmen dürfen. Das soll dazu beitragen, dass Gesinnungsgenossen Breiviks, die es dem Zwanzigjährigen zufolge zuhauf gibt, weniger sozialschädliche Äußerungsmöglichkeiten als den Terror wählen.

Die Tatsache, dass er bereit ist, mit Menschen anderer Gesinnung zu diskutieren, heißt Ihler zufolge aber nicht, dass er keine eigenen politische Ansichten hegt oder diese aufgeben will. Doch ganz oben auf der Liste dieser Überzeugungen steht für den Norweger, dass jeder das Recht haben muss, nicht mit ihm übereinzustimmen, ohne Gewalt fürchten zu müssen. Dabei hat er nicht nur konkrete Gewalt vor Augen, sondern auch die Drohung damit, der seiner Kenntnis nach nicht nur linke, sondern auch rechte Politiker "fast täglich" ausgesetzt sind. Und alles, was er von der Gegenseite erwartet, ist, dass auch sie sich auf diese Spielregel einlässt.

Als Kronzeugen für seine Position zitiert Ihler den norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg, der nach der Tat im letzten Sommer "mehr Offenheit" forderte. Das bedeutet für den derzeit in Liverpool wohnhaften Studenten der Theaterwissenschaften auch, dass "wir mehr mit Rechten und Rechtsextremen reden und diskutieren müssen, damit sie eine Möglichkeit haben, sich zu artikulieren und nicht gewalttätig zu werden". Von anderen Arbeiderpartiet-Mitgliedern (die der Auffassung sind, ihr Parteichef habe mit seiner Äußerung nicht so etwas gemeint) wird er dafür scharf angegriffen.

Auch dann, wenn man nicht wie Ihler die Redefreiheit als "Kern aller Menschenrechte" und Grundlage eines jeden Kampfes für weitergehende Freiheiten sieht, stellt sich ihre Einschränkung als zweischneidiges Instrument im Kampf gegen Terror dar: Sie sorgt nämlich potenziell dafür, dass Extremisten "Kreide fressen", solange sie noch nicht an den Schalthebeln der Macht sitzen. Das zeigte sich unter anderem im Deutschland der 1930er Jahre, wo eine exzessive Zeitungszensur (die nicht nur nationalsozialistische Blätter, sondern auch den Vorwärts und den Altöttinger Liebfrauenboten traf ) zwar für eine Mäßigung im Ton sorgte, aber weder Hitlers Machtergreifung noch den Holocaust verhinderte.

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