"Reicht denn das Leid der Menschen nicht aus?"

Seite 2: Woran liegt das, dass die Aufklärung oft nicht mehr ihr Publikum erreicht?

Woran liegt das, dass die Aufklärung oft nicht mehr ihr Publikum erreicht – wie die ersten Aufreger und die skandalisierende Berichterstattung? Liegt das dann auch daran, dass die Medienaufmerksamkeit zur Zeit der Aufklärung schon weitergereist ist, wenn dann im Nachhinein wissenschaftliche Erkenntnis kommt? Erreicht die Wissenschaft denn die Medien überhaupt nicht?

Jörg Becker: Nein! Und ich bin inzwischen ja nicht nur frustriert, dass wissenschaftliche Ergebnisse in den Medien nicht zur Kenntnis genommen werden, ich kann selbstverständlich auch nicht mehr länger eine simple Dichotomie ertragen, wie "Wir haben in Deutschland die freien Medien, Russland hat kontrollierte Staatsmedien." Ich kann mit dieser Dichotomie nicht länger leben.

Wir haben insbesondere zu Kriegszeiten ein einheitliches Angebot, wie über den jeweiligen Krieg zu berichten sei. Ohne dass es dafür eine Regierungsdirektive gibt – natürlich nicht – die Mechanismen sind anderer Art. Aber wir haben eine ganz einheitliche Kriegsberichterstattung. Wir nennen das in der Wissenschaft "den Tunnelblick".

Der herrscht vor und ich kann das fast auf den Tag genau sagen: der Tunnelblick nach Anbruch eines Krieges läuft sechs bis acht Wochen. In diese ersten sechs bis acht Wochen – und das war klassisch bei ARD und ZDF zu beobachten – löst ein pensionierter Bundeswehrgeneral als Spezialist den anderen ab.

Kritische Wissenschaftler, wie ich mit einer starken Geschichte in der Friedensforschung, kommen nicht in den ersten, sondern allenfalls ab der achten Woche zu Wort. Und genau da sind wir beide heute, Frau Schiffer, heute darf jemand wie ich reden, am zweiten Kriegstag wäre ich nicht in die Medien gekommen.

Und lassen Sie mich noch etwas Kritisches sagen: Selbstverständlich sind auch hier die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht so regierungsunabhängig, wie sie sein sollten. Wir kriegen permanent eine Verbindung zwischen abendlichen Talkshows und einem Bundeskanzler oder einem Minister. Ich mache außerdem darauf aufmerksam, dass Deutsche Welle und Deutschlandfunk in ihren eigenen Satzungen selbstverständlich den Regierungseinfluss drinstehen haben.

Ich mache auch darauf aufmerksam, dass erst eine Klage in Karlsruhe die regierungsnahe Besetzung in den Aufsichtsgremien des ZDF verkleinern musste. Also, lassen Sie uns runterkommen von dem Begriffspaar "bei uns ist alles frei, dort ist alles staatlich geknebelt". Im Übrigen gibt es Zensurgesetze innerhalb der Ukraine, welche ukrainischen Medien über den Krieg berichten dürfen und welche nicht. Runter von diesem Gegensatzpaar!

Das deutet auf ein selbstidealisierendes Framing hin, ganz so wie es Teun van Dijk beschreibt: Betone deine guten Eigenschaften und die schlechten Eigenschaften deines Gegenübers! Und, wie Sie das mit dem "großen Ungetüm gegen das kleine, freiheitsliebende Opfer" beschreiben, erinnert das an eine Art PR-super-Framing-Struktur, wie sie George Lakoff und Urs Dahinden beschreiben: den Kampf um die Davidsrolle gegen Goliath, denn ersterer erhält unsere Sympathien. Ist es so einfach gestrickt?

Jörg Becker: Ja, ich stimme dem voll zu. Ich denke gerade an meine allererste wissenschaftliche Arbeit an der Hessischen Stiftung Friedens und Konfliktforschung in Frankfurt 1970/711. Wir saßen damals in einer großen Studie über Feindbildproduktion im Parlament, im deutschen Parlament, und in der Presse. Und die dritte Vergleichsebene waren im Übrigen Schulbücher.

Sehr eindeutig konnten wir damals sehen, dass es eine Überlappung gibt zwischen einem alten russischen Feindbild: das sind die wilden Horden, die Barbaren, die Liegnitz überfallen haben, die nicht zivilisiert sind, die sich nicht benehmen können, die Frauen vergewaltigen, die Strümpfe im Klo waschen. So, das war das eine.

Das Ganze war selbstverständlich gemixt und überwoben mit einer kräftigen Portion von Antikommunismus im Kalten Krieg. D. h. man findet eine Überlappung zwischen diesem antirussischen Feindbild und dem Antikommunismus und heute schwappt wieder beides zusammen.

Man kann also auf alte Feindbildstrukturen zurückgreifen, die die Argumentation eingängiger machen? Aber dem widersprechen doch die Fakten, die wir ermitteln können.

Jörg Becker: Wobei dieses antirussische Feindbild natürlich – das ist bei Feindbildern schwierig – auch reale Strukturen im alten Russland aufgreift. Wir haben in Russland geschichtlich historisch immer zwei widersprüchliche große gesellschaftliche Kräfte gehabt – sozusagen pro-westliche Kräfte und reaktionäre völkische Kräfte, die nach dem wahren heiligen alten Russland suchen. Das sind immer schon Auseinandersetzungen gewesen und die gibt es natürlich heute nach wie vor.

Der dritte und letzte Teil des Interviews erscheint morgen.