Römisch-katholische Selbstwaschanlage

Eugenio Pacelli, der spätere Pius XII., am 20. Juli 1933 beim Abschluss des Konkordats mit Hitler-Deutschland. Ganz links der ihm eng vertraute rechte Politiker und Kleriker Prof. Dr. Ludwig Kaas, der sich nach seinem Verrat an der der katholischen Zentrumspartei in die Obhut des Vatikans begeben hatte und Deutschland nie wieder aufsuchte. Neben ihm Hitlers Steigbügelhalter, der rechtskatholische Adelige Franz von Papen. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-R24391. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die Religion des Klerikalismus kennt keine Schamgrenzen: Auch im Franziskus-Pontifikat hält der Vatikan offenbar am Plan fest, Pius XII. selig zu waschen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die frühen Christen werden in der biblischen Apostelgeschichte als "Leute des Weges" vorgestellt. Unter Berufung auf Jesus von Nazareth kann Kirche lediglich ein Mittel sein, "um den Armen eine gute Nachricht der Befreiung zu bringen und zerbrochene Herzen zu heilen". Die durch das letzte Konzil in Rom nur halbherzig überwundene Häresie des Klerikalismus hat hingegen aus der Kirche stets einen Selbstzweck und Fetisch gemacht, ein Anbetungsobjekt.

In diesem Programm "Kirche als Religion" sind Priesteranbetung und Priesterselbstanbetung weit verbreitet. Der Papstkult des 19. Jahrhunderts schreckte beispielsweise nicht davor zurück, den Bischof von Rom als "Dritte Inkarnation Gottes" zu feiern.

Unter solchen Vorzeichen wurde aus den "Leuten des Weges" das unfreie Fußvolk einer hierarchischen Kirchenpyramide, die bis heute nur aus Männern besteht. Der ausgewachsene Kirchenfürst handelte stets nach der Devise: "Ich bin der Herr, mein Gott". Allen Mitgliedern des auserwählten Priesterstandes bescheinigte der Katechismus eine sakramentale Wesensverwandlung, die nie mehr erlöschen kann.

Verdrängung von Versagen

Diese Ideologie ließ sich freilich nur aufrechterhalten durch eine systematische Verdrängung von Versagen. Dass Priester in nicht wenigen Fällen das genaue Gegenteil des christlichen Auftrags praktizierten, indem sie die Herzen von Kindern und anderen Schutzbefohlenen zerbrachen, durfte nicht zur Sprache kommen.

Ganz analog zur systematischen Verschweigung und Vertuschung von sexueller Gewalt vollzieht sich der Umgang mit historischem Versagen in Krisenzeiten. Die Religion des Klerikalismus hat die Kirche mehr als einmal in der Geschichte zur passiven Zuschauerin oder Kollaborateurin werden lassen, wo ihr Auftrag Widerstand erfordert hätte.

In zwei Weltkriegen haben die deutschen Oberhirten der massenmörderischen Militärapparatur ihre Assistenz nicht versagt. Während Ordensleute im Hitlerfaschismus die Hierarchen zu einem entschiedenen Einsatz für die Menschenrechte bewegen wollten, vertaten die Bischöfe einen beachtlichen Teil ihrer Zusammenkünfte mit infantilem Gezänk und verletzten Eitelkeiten.

Durch eine hauseigene Kirchengeschichtsschreibung des klerikalen Selbstlobkollektivs war lange Sorge dafür getragen, die Abgründe der Geschichte zuzuschütten oder gar in Triumphe der Hierarchie umzumünzen. Die mannigfachen Künste der Apologeten sind noch immer zu bestaunen.

Apologetik

Ein Beispiel: Schon in den Jahren 1933-1945 klagten besorgte Katholiken, die Bischöfe würden zu Verbrechen des NS-Regimes schweigen und sich stattdessen auf einen sakramentalen Bereich der sogenannten "Seelen-Sorge" zurückziehen. Die apologetische Schule kann so etwas nicht anfechten.

Sie erklärt kurzerhand, die "Seelsorge" sei schließlich der ureigene Auftrag der Bischöfe gewesen, und begibt sich im Rahmen dieses neuen Paradigmas sogleich ans Werk, die reichhaltigen "Seelsorge"-Verdienste der deutschen Bischöfe in der NS-Zeit zu erforschen. In diesem Jahr habe ich auf einer kirchlichen Tagung das sehr spezielle Statement eines Professors zum deutschnationalen Militaristen und nachmaligen Kardinal Lorenz Jaeger gehört.

Der Mann würdigte alle unappetitlichen Befunde der Jaeger-Forschung mit Stillschweigen, beschränkte sich stattdessen auf zwei vergleichsweise ganz unwichtige Nebenschauplätze und bot zu diesen eine "alternative Deutung" an.

Somit glaubte er erwiesen zu haben, dass die Kritiker des 1941 inthronisierten Paderborner Erzbischofs keine objektive Forschung leisten und nur polemisieren. Dieser Apologet gehört übrigens zufällig, wie ich nach der Tagung erfuhr, als Laie auch dem "Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem" an, dessen deutscher Großprior Kardinal Jaeger 1950-1975 gewesen ist. Das tut natürlich nichts zur Sache …

Ein extrem beschämendes Beispiel für die Paradigmen-Strategien der klerikalen Kirchengeschichtsschreibung bezieht sich auf Pius XII, der sich als Papst ab 1939 zu keiner wenigstens innerkirchlich wirksamen Verurteilung des deutschen Überfalls auf Polen durchringen konnte und danach durch "heroisches Schweigen" zur Ermordung der europäischen Juden hervorgetreten ist.

Erfolgloser telepathischer Fern-Exorzismus

Während die Nationalsozialisten in Deutschland einfache Katholiken und Leutepriester ermordeten, die weithin ohne Rückhalt ihrer Oberhirten Widerstand gegen das NS-System leisteten, hätte Pius XII. kurzerhand Adolf Hitler exkommunizieren können. Er hielt es aber offenbar für richtiger, stattdessen in Rom nur einen telepathischen Fern-Exorzismus auszuprobieren, um den Führer des Deutschen Reiches von bösen Geistern zu befreien. Dieser magische Anlauf blieb leider erfolglos.

Bedeutsame Fragen zur Causa Pius XII. habe ich schon vor acht Jahren in einem Telepolis-Beitrag (Pius XII. - Ein Fall für die Propaganda perfidei) referiert. Der erwiesenermaßen deutschfreundliche Papst war über die Shoa gut unterrichtet, verzichtete aber in all seinen Voten zum aktuellen Weltgeschehen darauf, das Wort "Jude" auch nur ein einziges Mal auszusprechen.

In seiner Weihnachtsansprache 1942 predigte er jedoch den Kardinälen von Jerusalems "Weg der Schuld bis zum Gottesmord", und in seiner Enzyklika "Mystici corporis" vom 29. Juni 1943 erfuhr das Christenvolk, das jüdische Gesetz sei todbringend [sic!] geworden und Israels einstiges Gnadenvlies müsse nunmehr trocken bleiben.

Über den Vorgängerpapst hat der Historiker David I. Kertzer 2014 eine neue Studie vorgelegt, die seit 2016 auch in einer deutschsprachigen Ausgabe vorliegt: "Der erste Stellvertreter - Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus." Es ist erschütternd zu lesen, wie Pius XI. (Achille Ambrogio Damiano Ratti) die Geister, die er durch seine Kooperation mit dem italienischen Faschismus gerufen hatte, am Ende seines Lebens nicht mehr loswerden konnte.

Der richtige Mann

Leider haben die meisten Rezensenten übersehen, dass Kertzers Arbeit schlimme Vorwürfe gegen den Nachfolger Pius XII. (Eugenio Pacelli) erhärtet. Benito Mussolini und dessen Helfer sahen in ihm den richtigen Mann, einen offenen Bruch zwischen Kirche und Faschismus zu verhindern. Alles spricht dafür, dass sie mit dieser Erwartungshaltung ganz und gar richtig lagen.

Brisante Archiv-Bestände zum Pacelli-Pontifikat ab 1939 sind der kritischen Wissenschaft noch immer nicht zugänglich. Die bislang vorliegenden Forschungsergebnisse lassen hinsichtlich der Bewertung des Versagens von Pius XII. noch manchen Spielraum. Vielleicht gibt es ja doch Argumente, dem sehr gütigen Urteil von Pius' Privatsekretär Robert Leiber SJ zu folgen: "Nein, ein Heiliger ist er nicht, aber ein großer Mann der Kirche."

Doch auf solche Feinheiten, welche mildernden Umstände etwa für den unrühmlichen Nachfolger Petri geltend gemacht werden können, lässt sich die Religion des Klerikalismus und der kirchlichen Selbstanbetung gar nicht ein. Sie tritt wie immer die Flucht nach vorne an und erklärt den Kritisierten, der "keine Kraft zum prophetischen Zeugnis" besaß (Hans Küng), einfach zum Kandidaten einer vorzüglichen Heiligkeit.

Nichts liegt den Traditionalisten in der katholischen Kirche heute mehr am Herzen

Dann hat man freilich einen ganz neuen Diskurs. David I. Kertzer schreibt im Nachwort zu seinem Werk hinsichtlich der peinlichen Erkenntnisse zur Rolle Pacellis: "Nichts liegt den Traditionalisten in der katholischen Kirche heute mehr am Herzen als die Heiligsprechung Pacellis - Papst Pius XII."

Hier haben wir es mit dem Lackmus-Test zu tun, der uns anzeigt, wie glaubwürdig die Klerikalismus-Kritik des gegenwärtigen Papstes ist. Denn eine Selig- oder Heiligsprechung von Pius XII. wäre so etwas wie ein ultimativer Sieg jenes Klerikalismus, der Akten wegschließt und sich von kritischer Forschung nicht anfechten lässt: "Eine vatikanische Farce - und eine Desavouierung der Schuldbekenntnisse von Johannes Paul II." (Hans Küng)

Unverdrossen hält ein Teil des Vatikans am Projekt "Seligwaschung" fest. Vor kurzem verbreitete Radio Vatikan die auch vom deutschen Kirchen-Portal katholisch.de übernommene Meldung, dass der Kurien-Erzbischof Marcello Bartolucci zum 60. Todestag von Eugenio Pacelli die Gläubigen der Weltkirche ermuntert hat, in Krankheit und Notlage Pius XII. um Fürbitte anzurufen.

Denn es fehle noch immer das "Wunder", ohne das eine Erhebung zur Seligkeit nicht stattfinden kann. Solche "Wunder" gibt es immer mal wieder - und sie sollen jeden Schaden heilen.

Kirchengeschichtsschreibung und Heiligsprechungen haben immer auch eine kirchenpolitische Dimension. Der Priester Prof. Hubert Wolf, ein überzeugender Vertreter der Kirchenhistoriker-Zunft, hat unlängst kritisiert , dass reihenweise Päpste durch ihre Nachfolger heiliggesprochen werden und hierbei ein peinliches Bild der ausufernden päpstlichen Selbstbeweihräucherung entsteht.

Über die Ehrung von Johannes XXIII. und Paul VI. freuen sich auch offene Christenmenschen. Mit einer Kanonisation von Pius XII. wäre freilich ein wirklich neues Stadium erreicht, das viele kirchlich gesonnene Katholiken - wie den Verfasser dieses Beitrags - in Gewissennöte bringt.

Ein um Rat befragter emeritierter Theologieprofessor schreibt mir, er teile meine Kümmernis voll und ganz, doch es müssten sich jetzt die jüngeren katholischen Lehrstuhlinhaber im Rahmen eines gemeinschaftlichen Vorgehens zu Wort melden.

Falls der Shoa-Verschweiger Eugenio Pacelli als Seliger oder Heiliger auf den Altar gestellt wird, ist die Grenze meiner "Leidensbereitschaft" erreicht. Es sei hier angekündigt, dass auch ich dann die römische Kirchenkörperschaft verlasse - trotz Papa Francesco.