Rückblick auf ein besonderes Jahr für den Kriegs- und Krisenjournalismus
Seite 2: Produktion von Mainstream
Die Tendenz, bestimmte Interpretationen von Ereignissen zu vereinheitlichen, widerspricht zwar dem normativen Anspruch einer modernen und demokratischen Gesellschaft. Es handelt sich aber um eine feste soziale Konstante. Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss stellte fest, dass menschliche Gesellschaften durch bestimmte Erzählungen verbunden sind, die für das Denken der Gruppe eine repräsentative Funktion ausüben.1
Um dieses zentrale Selbstverständnis, dass sich auf einen Satz mit Subjekt, Handlung und, wenn nötig, Objekt reduzieren lässt, werden alle weiteren Erzählungen und ihre Elemente gruppiert. Elementar für das geteilte Selbstverständnis und damit das Funktionieren der Gruppe ist, so Claude Lévi-Strauss, dass alle ihre Mitglieder diese konstitutive Erzählung, diesen Mythos, anerkennen und sich aktiv an seiner Forterzählung beteiligen.
Der Mythos, um den sich die mediale Darstellung des Ukraine-Konflikts gruppiert, lautet: "Eine demokratische Opposition verteidigt sich gegen einen autokratischen Herrscher." Die beiden Akteure bilden das für einen Mythos typische Gegensatzpaar - demokratisch vs. autokratisch - und schließen an den alles beherrschenden Mythos westlicher Gesellschaften an: "Wir = demokratisch". Der absolut überwiegende Teil der internationalen Konfliktberichterstattung, nicht nur im Fall der Ukraine, fügt diesem Mythos weitere Elemente hinzu, die darauf angelegt sind, das zentrale Selbstverständnis zu bestätigen und variantenreich immer wieder neu zu erzählen.
In den 1960er Jahren wendete Roland Barthes die Methode der strukturalen Analyse von Mythen erstmals auf ein modernes Mediensystem und seine Bildersprache an.2 Nicht ganz zufällig wählte er die Auslandsberichterstattung als Gegenstand seiner Untersuchung, da sich hier schematische Bilder von der Welt, das produzierte Weltbild, besonders deutlich abzeichnen. Die französischen Medien, so Roland Barthes, entfernen nicht die französische Imperialität aus ihrer Darstellung der Kolonien. Entfernt werden die Eigenschaften des Kolonialismus. Eine Funktion des Mythos besteht darin, ein Gesprächsthema anzubieten, aber das Thema zu bereinigen. "Die Dinge verlieren in ihm die Erinnerung an ihre Herstellung. Der Mythos ist eine entpolitisierte Aussage."
In der jüngeren Medien- und Kommunikationswissenschaft wird die Entstehung von dem, was Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes den Mythos nannten, also das Entstehen und die Folgen einer von Widersprüchen bereinigten schematische Aussage, unter den Begriffen Frame oder Mainstreaming3 behandelt. Der Journalismus beschreibt seine diesbezüglichen Tätigkeiten mit den einfachen Handlungen: Auswählen, Gewichten und Kommentieren. Letztlich bleiben es aber unterschiedliche Aspekte der gleichen Handlung - eine plausibel wirkende Erzählung für einen gruppenbezogenen Konsens herzustellen.
Inhaltliche Bereinigung der Ukraine
Anhand der drei Elemente des Ukraine-Mythos - "demokratische Opposition", "sich verteidigen gegen" und "autokratischer Herrscher" - können im Jahresverlauf unzählige Aspekte ausgemacht werden, welche die Plausibilität dieser zentralen Erzählung empfindlich hätten stören müssen. Einige Punkte, die den demokratischen Charakter der damaligen Opposition betreffen, wurden oben bereits benannt.
Im gesamten vergangenen Jahr schaffte es kein einziges deutsches Medium, eine kritische Analyse der jüngeren ukrainischen Geschichte vorzulegen, die auch nur andeutet, was alle in der Ukraine wissen und was sogar ein zentrales Motiv für viele Teilnehmer an den Maidan-Protesten war: Dass die Vertreter ausnahmslos aller etablierten Parteien Einflussfiguren der so genannten Oligarchen sind. Die so bezeichneten Unternehmer kamen zunächst ausschließlich aus den Branchen Energie und Stahl, welche aus wirtschaftlichen Gründen gute Gründe für enge Bindungen an Russland haben (u.a. Rinat Achmetow, Wiktor Pintschuk und Dmitrij Firtasch). Andere Oligarchen wie Pjotr Poroschenko traten in deutschen Medien hingegen unter der sachlichen Bezeichnung Milliardär, Magnat und "Unterstützer der Orangen Revolution" auf.
Ausgerechnet der Ausgang der "Orangen Revolution", die Machtergreifung von Wiktor Juschtschenko (Unsere Ukraine) und Julia Timoschenko, hatte das Land genau zehn Jahre zuvor in neue Untiefen von Korruption und Willkür gestürzt. Entsprechend wählte ein Großteil der Ukrainer sechs Jahre später mehrheitlich Wiktor Janukowitsch (Partei der Regionen). Die beiden offensichtlich beschädigten Protagonisten der Orangen Revolution traten in der Berichterstattung denn auch deutlich in den Hintergrund. Die erkennbaren Gesichter der aktuellen Konjunktur stellten unverbrauchte Figuren wie Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk aus der Vaterlandspartei von Timoschenko. Die "Gasprinzessin" selbst blieb auch dann noch im Hintergrund des medial vermittelten Geschehens, als sie am 18. März telefonisch kundtat, dass sie "diese verdammten Russen abknallen" und den "Bastard Putin in den Kopf schießen" wolle.
Das linguistische Prädikat des Ukraine-Mythos - "sich verteidigen gegen" - setzt darauf, dass die offensive und gewalttätige Strategie der Opposition, die sich über alle möglichen Gesetze stellte, als solches nicht gewürdigt wurde. Bis einschließlich Februar 2014 berichteten deutsche Journalisten vollkommen wertungsfrei darüber, dass die Opposition Barrikaden baut, öffentliche Gebäude besetzt oder anzündet oder den öffentlichen Verkehr unterbricht. Natürlich gehören auch körperliche Attacken auf Polizisten und politisch Andersdenkende zum scheinbar selbstverständlichen Inventar demokratischer Proteste. Der Angreifer war in der Sprache der Journalisten durchgehend "der Staat" ("Die Berkut greifen an"), während sich die Opposition grundsätzlich verteidigt. Darin wurde sie ab Mitte Dezember von höchster Stelle offiziell unterstützt: "US-Verteidigungsminister Chuck Hagel warnt die ukrainische Führung, Demonstranten militärisch zurückzudrängen."
Spätestens ab diesem Zeitpunkt war für kritische Leser deutlich, dass es sich um einen Konflikt mit internationalen Dimensionen handelt. In der Ukraine traten zu diesem Zeitpunkt bereits Akteure wie US-Senator John McCain auf, der in den USA als Lobbyist des größten amerikanischen Energieunternehmens Exxon bekannt ist ("Exxon-John"). Auch die Staatssekretärin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland, gehörte zu den frühesten internationalen Gästen auf dem Maidan. Eine Einordnung geopolitischer Interessen und insbesondere der USA an der Ukraine boten deutsche Medien kaum. Konkrete wirtschaftliche Vereinbarungen, etwa von Exxon und Chevron, sind bis heute kein Thema, ein Jahr nach dem Ausbruch der Krise.
Das linguistische Objekt, der "autokratischer Herrscher", machte im Verlauf der Berichterstattung interessante Wandlungen durch. Überflüssig festzustellen, dass die Entscheidung des gewählten Präsidenten, ein zweifelhaftes Abkommen mit der EU zu unterzeichnen, im journalistischen Verständnis ebenso eine Angriffshandlung darstellt wie seine Weigerung, vorzeitig zurückzutreten. Der Begriff Paradigma bezeichnet in der Linguistik einen Gegenstand, der ohne inhaltliche Verluste durch andere Objekte ausgetauscht werden kann. Ab Mitte Dezember wurde das Paradigma "autokratischer Herrscher" zusehends von einem anderen Politiker besetzt: Wladimir Putin. Dabei wurden in normalen nachrichtlichen Beiträgen frühzeitig emotionale bzw. psychologisierende Kategorien zur Anwendung gebracht ("Kalt, skrupellos, erfolgreich: Was treibt den Mann im Kreml?") Ab diesem Zeitpunkt gestaltete sich der Ukraine-Konflikt für deutsche Leser zunehmend als ein Konflikt mit Russland und nicht mehr als innerukrainisches Problem (siehe: Die wahrhaften Putin-Versteher).