Rückblick auf ein besonderes Jahr für den Kriegs- und Krisenjournalismus

Seite 3: Oppositionelle Lesarten internationaler Politik

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In den 1970er Jahren setzte der jamaikanisch-britische Soziologe Stuart Hall die strukturalistische Methode der Mediananalyse fort. Die Diskussionen der Cultural Studies räumten vor allem mit dem Bild vom passiven Rezipienten auf. Ausgehend von der "relativen Autonomie" der übermittelten Nachricht stellte Stuart Hall fest, dass die Empfänger unterschiedlich mit ihrem Inhalt umgehen und ihn keineswegs immer in der beabsichtigten dominanten Lesart übernehmen. Daneben besteht eine "ausgehandelte Position". Der Zuschauer erkennt zwar die Legitimität der hegemonialen Position grundsätzlich an, zweifelt aber aufgrund der eigenen Erfahrungen an ihrer generellen Gültigkeit.

Ein drittes Zuschauerverhalten beschreibt Hall als oppositionelle Lesart: Zuschauer können die Nachricht auf völlig gegensätzliche Weise verstehen. "Einer der wesentlichen politischen Momente (sie fallen übrigens aus offensichtlichen Gründen mit den Krisensituationen innerhalb der Sendeanstalten selbst zusammen) wird von dem Punkt markiert, an dem Ereignissen, die normalerweise in ausgehandelter Form bezeichnet und dekodiert werden, eine oppositionelle Lesart zugeschrieben wird."4

Bisher war die Frage, wie welche Teile des Publikums auf Medieninhalte reagieren, ob sie die dominante Lesart internalisieren oder gar ein oppositionelles Verständnis entwickeln, Gegenstand von Spekulationen oder aufwendigen repräsentativen Befragungen. Eine öffentliche Repräsentation oppositioneller Diskurse fehlte weitgehend, wenn der Medienwissenschaft auch klar war, dass unterhalb der medial vermittelten Öffentlichkeit eine andere, eine Encounter- bzw. eine Mund-zu-Mund-Öffentlichkeit besteht, die sich gefährlich weit von den hegemonialen Diskursen entfernen kann.

Das wichtigste medienpolitische Ereignis des vergangenen Jahres besteht darin, dass große Teile des deutschen Publikums mithilfe der Netzmedien ihre oppositionelle Lesart, in diesem Fall des Ukraine-Konflikts, drastisch und unmissverständlich öffentlich Ausdruck verliehen haben. In den sozialen Netzwerken und den Online-Foren der großen Inhalteanbieter entlud sich Widerspruch in bisher ungekannter Form. Das, was ich an anderer Stelle als "Götterdämmerung des Auslandsjournalismus" bezeichnet habe, wird zukünftig die politische Kommunikation im Zusammenhang mit internationalen Konflikten massiv beeinflussen, zumal ein derartiger Vertrauensverlust normalerweise einen sehr nachhaltigen Charakter aufweist. Für große Teile des Publikums ist der Kaiser nackt (siehe: Meinungskluft um die Ukraine).

Auch wenn es zu früh ist, die inneren Logiken und Auswirkungen dieser Protestwelle detailliert zu beschreiben, lassen sich einige Hypothesen formulieren. Die massive und konsonante Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt hat - erstens - keineswegs dazu geführt, dass das Publikum die intendierte Lesart verinnerlichte, sondern sie hat das Vertrauen in die traditionellen Massenmedien, auch das Selbstvertrauen innerhalb der Medienapparate, massiv geschädigt. Dies beschreibt etwa Annette Milz, Chefredakteurin des Medium-Magazin, wenn sie von einer "Parallelwelt der Meinungen" spricht, die die "Glaubwürdigkeit der etablierten Medien ins Wanken bringt".

Das Publikum hat es - zweitens - gelernt, eigene Sichtweisen effektiv öffentlich vorzubringen. Allerdings nutzt nur eine Minderheit dafür eigene Publikationskanäle. Zum absolut überwiegenden Teil befinden sich die oppositionellen Meinungsäußerungen unter der technischen Hoheit der traditionellen Medien, in ihren Kommentarspalten und Foren. Die Medienwissenschaftler Christian Baden und Nina Springer untersuchten die Leserkommentare auf dem Höhepunkt der europäischen Schuldenkrise im Jahr 2012. Sie fanden heraus, dass die Kommentare damals größtenteils innerhalb des interpretativen Repertoires der genutzten Medien blieben: "Allerdings nutzen sie den Medienframe ziemlich frei, um ihre eigene Sichtweise zu entwickeln, den Fokus zu verlagern und neue Aspekte herauszuarbeiten." Zwar seien damals - anders als aktuell in der Ukraine-Kommentierung - keine "einheitlichen alternativen Repertoires" entwickelt worden, aber die Nutzer ergänzten auf wertvolle Weise die Vielfalt von den Anliegen, die auf den großen Nachrichtenseiten diskutiert wurden.

Die etablierten Medien haben sich - drittens - als unfähig und unwillig erwiesen, oppositionelle Lesarten auch nur ansatzweise zu integrieren, um etwa eine ausgehandelte Position zurückzugewinnen. Weder führte die öffentliche Kritik dazu, dass sich die redaktionelle Linie hinsichtlich der Ukraine-Berichterstattung substantiell änderte. Noch wurde die Fehlerhaftigkeit der eigenen Arbeit auch nur eingeräumt. Innerhalb der privaten Medien dominiert öffentlich eine aggressive Abwehrhaltung. Die zuständigen Redakteure versuchen, die Kritik durch das Publikum als "gesteuerte Kampagne" zu rationalisieren.

Inzwischen nutzen die großen Anbieter ihre Verfügungsmacht, um die Möglichkeit zu kommentieren grundsätzlich einzuschränken oder unangepasste Meinungsbeiträge zu zensieren. Auch bei den privaten Netzwerken Facebook und Twitter wurden Nutzer aus politischen Gründen zensiert oder vollständig gesperrt. Die öffentlich rechtlichen Medien sahen sich teilweise gezwungen, Probleme einzuräumen, wobei sie ihren systematischen Charakter in Abrede stellten und auf bedauerliche Einzelfälle verwiesen (siehe: Glasnost bei ARD-Aktuell).