Rückblick auf ein besonderes Jahr für den Kriegs- und Krisenjournalismus
Seite 4: Von der Kriegsberichterstattung zur kriegerischen Berichterstattung
- Rückblick auf ein besonderes Jahr für den Kriegs- und Krisenjournalismus
- Produktion von Mainstream
- Oppositionelle Lesarten internationaler Politik
- Von der Kriegsberichterstattung zur kriegerischen Berichterstattung
- Auf einer Seite lesen
Im Kern bietet der journalistische Umgang mit der Ukraine ein Modell dafür, wann Kriegsberichterstattung zu kriegerischer Berichterstattung wird, die Journalisten also nicht mehr als Reporter, sondern als Teilnehmer des Konflikts eingestuft werden müssen, dafür, wann Medien als kriegführende Partei wahrgenommen werden sollten. Insofern kann der Nutzen einer ansonsten äußerst beschämenden Situation darin bestehen, Warnhinweise abzuleiten, die es den Zuschauern ermöglichen, rechtzeitig Maßnahmen zur Auto-Immunisierung einzuleiten.
Ein zentrales Warnsignal besteht sicher im erzählerischen Motiv: "Demokratische Opposition verteidigt sich gegen autokratischen Herrscher". Dieser Mythos erweist sich bei einem genaueren Rückblick als ein Paradigma, das im Zusammenhang mit zahlreichen Fällen von westlichen Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Länder auftritt. Da mythische Erzählungen sich im Wesentlichen aus dem Selbstverständnis der Erzähler speisen und nur teilweise bewusst gestaltet sind, lässt sich sicher vorhersagen, dass wir diese Geschichte auch in Zukunft noch häufiger hören werden.
Es handelt sich um ein Motiv dessen Aktanten austauschbar sind, egal ob es sich um Georgien, Irak, Iran, Libyen, Sudan, Syrien, Russland oder Venezuela handelt. Dabei funktioniert die Erzählung völlig unabhängig davon, wie demokratisch oder autokratisch die Regierungsform des jeweiligen Landes ist, wie demokratisch oder gar faschistoid die Opposition verfasst ist - Stichwort Libyen, Syrien, Sudan und Ukraine. Für das Publikum sollte die goldene Regel gelten: Menschenrechte waren noch nie ein handlungsleitendes Motiv für außenpolitische Entscheidungen und schon gar kein Grund dafür, einen Krieg zu entfesseln.
Ein zweiter deutlicher Warnhinweis besteht in einer aggressiven Personalisierung bei der Beschreibung gesellschaftlicher Probleme. Wenn Menschen, die sich professionell mit Politik beschäftigen, seien es Journalisten oder Politiker, auch nur versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass ein manifester gesellschaftlicher Missstand maßgeblich von einer einzelnen Person verantwortet wird, sollte man ihnen sofort das Misstrauen aussprechen und das Abonnement kündigen.
Eine derartig defizitäre Problembeschreibung ist nicht einfach beleidigend unprofessionell, sondern dient in der Regel dazu, von anderen, verdeckten Interessens- und Konfliktlagen abzulenken. Politik ist organisiertes Gruppenhandeln. Die offensive Stigmatisierung einzelner gegnerischer Repräsentanten zielt darauf ab, einen Konflikt zu eskalieren.
Damit haben sich die Signale im eigentlichen Sinn schon erschöpft, denn weitere Hinweise bestehen vor allem darin, dass etwas nicht berichtet wird. Auslassungen und Lücken bei der Beschreibung eines Konflikts bieten zwar zuverlässige Hinweise auf strategische Absichten der berichtenden Person. Sie sind aber ihrer Natur nach schwerer zu erkennen, weil sie genau in der Abwesenheit von etwas bestehen.
Eine strategische Auslassung lässt sich etwa aus dem für Konflikte typischen Verlauf ableiten. Sie eskalieren normalerweise zwischen zwei Parteien in einer spiralförmigen Schaukelbewegung. Wenn eine berichtende Person in ihrer Darstellung das Aggressions- und Gewaltpotential einer der beteiligten Parteien herunterspielt bzw. ausgeblendet und eventuelle Gewaltmaßnahmen dieser Partei als notwendiges Verteidigungshandeln rechtfertigt, liegt häufig - nicht immer - eine Parteinahme vor.
Dieser Verdacht sollte auch bei einer polarisierenden Darstellung überprüft werden, wenn also über gesellschaftliche Zwischenpositionen nicht berichtet wird. In allen gesellschaftlichen Konflikten bestehen zusätzlich zu den beiden dominanten Antagonisten dritte Positionen, die anfänglich sogar die schweigende Mehrheit ausmachen. Im Verlaufe einer Eskalation werden sie häufig zu Minderheitspositionen. Medien, die eine solche Polarisierung durch ihre Berichterstattung unterstützen, sind - freiwillig oder unfreiwillig - Kriegspartei.
Zum Bereich verdächtig taktisches Verhalten kann es schließlich auch gehören, wenn die Berichterstattung ausschließlich auf den jeweils aktuellen Zustand eines Konflikts fokussiert und den Vorlauf, relevante Hintergründe und externe Interessen nicht benennt.
Spätestens wenn alle drei Haltungen in der Berichterstattung auftauchen - Positionierung, Polarisierung und Aktualitätsfixierung - sollten bewusst andere Quellen herangezogen werden.