Ruin der Ideale. Ein Lehrstück

Bücherverbrennung am Opernplatz in Berlin am 10. Mai. 1933. Bild: Deutsches Bundesarchiv (102-14597). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Mai 1933: Deutschland wird herrisch, die geistige Elite zeigt Enthusiasmus

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Von wegen "Land der Dichter und Denker". Vor 80 Jahren zeigt der teutonische Geist ein ganz anderes Gesicht als das der vielgerühmten Freiheit - und zwar eine üble Fratze. Deutschland steht 1933 am Beginn einer historisch beispielhaften Gleichschaltung der Geister; Enthusiasmus ersetzt zunehmend die Ideale. Im Mai gipfeln im Reich die "Aktionen wider den undeutschen Geist", so zum Beispiel im rituellen Fanal eines demonstrativen öffentlichen Bücherbrands in der Hauptstadt Berlin. Mit solcherlei Aktionen wird die Grundlage für eine Diktatur gelegt, die in den nachfolgenden Jahren das Land in die Katastrophe stürzen wird.

Berlin, 10. Mai 1933: Mehr als 30.000 Bücher werden allein an diesem Tag zum willkürlichen Fraß der reichsdeutschen Brandstifter, ausgemustert und abgefackelt unter begeisterter Mitwirkung und sogar maßgeblicher Initiative der deutschen Akademiker- und Studentenschaft. Marx, Bloch, Freud, Heine fliegen in hohem Bogen ins unduldsame Feuer. Auf dem Index der "undeutschen Autoren" viele bekannte Namen von Brecht bis Tucholsky und Zweig. Auch die Namen ausländischer "Zersetzer" fehlen nicht. Goebbels bringt in einer Radiorede auf dem Berliner Opernplatz am Abend des 10. Mai vor freudetrunkenen Kommilitonen die Sache auf den Punkt: "Das Zeitalter eines überspitzten jüdischen Intellektualismus ist nun zu Ende".

Seine Rede, gerade mal acht Jahrzehnte alt, ist für nachgeborene Geister bestens dokumentiert, das Video im Archiv des Deutschen Historischen Museums (DHM) Berlin lässt die Ansprache jederzeit lebendig werden. Unter der Parole "Deutschland erwache" begann das deutsche Volk - zunächst geistig - zu marschieren.

Berlin war jedoch nur ein früher Höhepunkt in der öffentlichen Propaganda, nicht der Anfang der Bücherverbrennungen. Im Frühjahr loderten schon in Kaiserslautern, in Wuppertal und andernorts die Flammen. Während der Aktionen wurden sogenannte "Feuersprüche" ausgetrommelt. "Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele!" "Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist!", so die Parolen.

Monopolisierung der Macht

Bekannt ist Hitlers Vorsicht und Rücksichtnahme gegenüber den Konservativen zu Anfang seiner Kanzlerschaft. Auf dem Weg zur Monopolisierung der politischen Macht war ihm daran gelegen, sich beizeiten den Beistand derer zu sichern, die potentiell auf weltanschaulichen Kollisionskurs hätten gehen können. Waren die Kirchen dazu in der Lage?

Schon das Ermächtigungsgesetz (März 1933) förderte kirchlicherseits ein ernüchterndes Einvernehmen zutage; die katholischen Bischöfe zeigten sich von Anfang an denkbar loyal. Durch eine ihrer frühen Erklärungen (in dem Fall vom 28. März 1933) wurde das neue Gesetz "geistlich legitimiert und einer politischen Opposition der Katholiken gegen das neue Regime der innere Rückhalt entzogen", so Ernst-Wolfgang Böckenförde.1

Bald darauf, im Sommer 1933, folgte das Konkordat zwischen der Reichsregierung und dem Heiligen Stuhl. Das Kirchenvolk war vorerst neutralisiert und wurde in der Kriegstheologie und -wirklichkeit bald zu Marschierern; der deutsche Katholizismus hatte damit frühzeitig kapituliert (Requiem für Hitler).

"Exkremente überhitzter Phantasten"

"Seit Tagen erschöpfende Hitze", notiert Victor Klemperer unterm 28. Juli 1933 in sein Tagebuch und fährt frustriert fort: "Welch eine Hysterie in allen Worten und Taten der Regierung! Das ewige Androhen der Todesstrafe, das Festnehmen von Geiseln, neulich der Unterbruch allen Reiseverkehrs (…): Fahndung auf staatsfeindliche Kuriere und Druckschriften in ganz Deutschland!"2

Den Worten der Regierung folgten Taten, und das nicht zu knapp. Druckwerke, die einen "undeutschen Geist" erkennen ließen, fielen alsbald unters Pauschalverdikt. Was "undeutscher Geist" ist, bestimmte zunächst die Reichsschrifttumsstelle. Als "Freund des Lesers" gab sie an, was zu lesen sei.

Weiter ging’s bald mit einem Gesetz, dem "Reichskulturkammer-Gesetz" vom September 1933. Damit wurden die verschiedenen Einzelkammern eingerichtet: Schrifttum, Presse, Rundfunk, Theater, Musik, Bildende Künste. Diese Kammer - ihr Präsident wurde Goebbels - diente der totalen ideologischen Überwachung. Meinungsvielfalt galt als zersetzend und wurde entsprechend gebrandmarkt. Spöttisch als "Exkrement überhitzter Phantasten" bezeichnet, war potentiell jedes unliebsame Werk dem Hohn der reichsdeutschen Sittenwächter ausgeliefert.

Die beschlagnahmtem Bücher wurden auf einem Wagen gesammelt und zur Verbrennung auf den Opernplatz in Berlin gefahren. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-B0527-0001-77). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Wo blieb Deutschlands Elite?

Auf der Liste standen "Volksfremder Journalismus" und "Gesinnungslumperei" gleichrangig neben "Politischem Verrat". Im Vordergrund rangierte die Reinheit der Partei. Deren zunehmende Theologisierung und Glorifikation gingen Hand in Hand; alles literarisch und journalistisch "Kranke" und "Unzuverlässige" wurde von ihrer überlegenen Position aus stigmatisiert und ausgemerzt. Am eifrigsten gaben sich die Universitäten, sie verstanden sich als geistiger "Hort des deutschen Volkstums". In ganz Deutschland regte sich kaum Widerstand. Wo blieb Deutschlands geistige Elite?

"Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser, Erich Kästner." Germanistikprofessoren im Talar hielten wohlfeile Ansprachen und borgten damit den Säuberungen der politischen Polizei akademische Weihen. Bis Ende Mai 1933 wurden allein in Berlin rund 10.000 Zentner "marxistischer" Literatur beschlagnahmt. Heerscharen braver Bürger folgten den Aufrufen und entsorgten bereitwillig "Schmutzschriften" aus ihren Bücherregalen, die sie zuvor offenbar gar nicht als "artfremd" oder "zersetzend" (so die offizielle Diktion) erkannt hatten. Büchereien und Bibliotheken wurden reichsweit nach "intellektuellem Nihilismus" durchforstet, jüdische Autoren ausnahmslos verboten. Kriegs- und Heldenstücke, Heimat- und Bauernromane dagegen waren und blieben erwünscht und beliebt. Eine Liste "schädlichen Schrifttums", die 1935 erschien, enthielt rund 3.600 Einzeltitel, bis 1938 waren es über 4.000 Titel.

Wo standen Anfang 1933, vor achtzig Jahren, die geistigen Experten der Nation? Die Bücherberge brannten - und siehe da, gerade die Intellektuellen erwiesen sich als treibende Kraft. Allen voran Hochschulen und Studentenschaften. Anders gefragt: Wo blieb 1933 die akademische Elite als moralische Elite?

Das Thema lässt insofern auch grundsätzlich nachdenken über die intellektuelle Klasse eines Landes, und dies in zweifacher Hinsicht: Erstens, die Kirchen gingen von Anfang an den Weg des geringsten Widerstandes. Anfang des Jahres 1933 gab es keine Proteste gegen die Bücherverbrennungen, keine Schützenhilfe für die verfemten Autoren, keine Einwände und nicht den Versuch einer Debatte versus Goebbels & Co. Zweitens, mit einem kleinen Zeitsprung: Sieht man sich die Teilnehmerliste der Wannseekonferenz wenige Jahre später an - das ist die Konferenz, auf der Anfang 1942 die "Endlösung" der Judenfrage beschlossen wurde -, so stellt man fest, dass die Beschlussfasser keine "plumpen biertrinkenden Nazis", sondern christlich erzogene Akademiker waren, darunter etliche promovierte Rechts- und Staatswissenschaftler.

So zum Beispiel Dr. Wilhelm Stuckart, christlich erzogen, Abitur, Jurastudium in München und Frankfurt, 1928 Promotion zum Doktor der Jurisprudenz; Stuckart war 1934 sogar Staatssekretär im Reichsministerium für Wissenschaft und Erziehung. Leute diesen Zuschnitts sprachen mit ihrem verhängnisvollen Entscheid vom Februar ’42 über mehr als sechs Millionen Juden in ganz Europa das Todesurteil, tranken danach in gemütlicher Runde Cognac und Kaffee am Kaminfeuer der Wannsee-Villa. Unter den 15 Teilnehmern allein acht promovierte Akademiker.

Ein früher Holocaust - und eine andauernde Gefahr

"Wie kann man nach einem solchen Absturz, in den Trümmern eines so vollständigen inneren und äußeren Ruins, neu beginnen?", fragte Peter Graf Kielmansegg vor Jahren, als er über den Umgang der Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit nachdachte.3

Prägnanter gibt sich Adorno, wenn er feststellt: "Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen."4

Unter diesem Aspekt war der frühe (geistig-literarische) Holocaust vom Frühjahr 1933 schon ein Vorgeschmack, wenn nicht ideeller Wegbereiter (und auch Testfall), wie weit das Regime würde gehen können. Heute brennen zwar keine Bücher, aber die Gefahr bleibt, wie eine verblendete Politik zum Totalstaat neigen und mit welchen Methoden sie dabei vorgehen kann - step by step.

Und eine triste Erkenntnis bleibt wohl auch: "Wissenschaft" ist nicht unbedingt ein adäquater Hemmschuh beim Abdriften in Tyrannei. Denn, wie es scheint, es fehlt bis heute an einer ausgereiften und breit konsensfähigen, dabei wirklich kritischen Staats- und Gesellschaftstheorie, die im Fall des Falles aufklärerisch wirken könnte.