Russland-EU: Interesse bei Firmen, aber nicht in der Politik
Die Initiative "Einheitlicher Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok" will gemeinsame Standards und Handelserleichterungen voranbringen
In der Initiative "Einheitlicher Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok" haben sich etwa hundert Unternehmen und Institutionen aus insgesamt acht Ländern zusammengeschlossen - darunter die russische Industrie- und Handelskammer, die die diesjährige Konferenz der Gruppe veranstaltete.
Auf ihr versprach Ernesto Ferlenghi, der Präsident des italienischen Industrieverbandes Confindustria Russia, den von der Corona-Epidemie bedrohten europäischen Volkswirtschaften einen "vielversprechenden 183-Millionen-Markt", wenn sich die EU und die aus Russland, Weißrussland, Armenien, Kasachstan und Kirgisistan bestehende Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) mit einem Bruttoinlandsprodukt von umgerechnet fast zwei Billionen US-Dollar auf gemeinsame Regeln und Standards für Waren und Dienstleistungen einigen können. Eine Chance, die man seiner Meinung nach "nicht ignorieren" sollte.
Alte Idee Charles de Gaulles
Ferlenghis Landsmann Matteo Salvini, der damalige italienische Innenminister, hatte im letzten Jahr sogar verlautbart, er ziehe die "Idee eines EU-Beitritts" Russlands der einer Aufnahme der Türkei "ehrlich gesagt" vor: "Russland", so Salvini, sei nämlich "unserer Geschichte, unserer Kultur, unserer Wirtschaft und unseren Traditionen deutlich näher als die Türkei", die mit aktuell 80 etwa 65 Millionen weniger Einwohner hat als Russland und mit der seit 2005 Beitrittsgespräche laufen (vgl. Salvini: Russland statt der Türkei in die EU).
Damit hatte Salvini eine alte Idee Charles de Gaulles aufgegriffen. Der spätere französische Staatspräsident begrüßte bereits 1935 einen Pakt zwischen Frankreich und der Sowjetunion, weil er sich davon eine Eindämmung der Macht Berlins erwartete. 1944 brachte er die Idee eines Europas, das Russland mit einschließt, in seinem Buch Vers l'armée de métier zu Papier.
Als französischer Staatspräsident verfolgte de Gaulle dem Historiker Knut Linsel zufolge das Ziel einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ohne britische Beteiligung und ohne die Aufgabe nationaler Souveränität durch die Mitgliedsländer (vgl. Russland in die EU?). Die war ihm ebenso sehr "ein Dorn im Auge […] wie die militärische Integration im Falle der NATO", aus der er Frankreich 1966 teilentfernte (was Nicholas Sarkozy 43 Jahre später wieder rückgängig machte). Als de Gaulle ebenfalls 1966 die Sowjetunion besuchte, verkündete er dort ebenfalls seine "Vision" eines Europas unter Einschluss der Russen.
Hindernis Ukrainekonflikt
Auch der russische Staatspräsident Wladimir Putin hatte die Idee 2001 aufgegriffen, als er bei einem Besuch im Deutschen Bundestag eine gemeinsame europäisch-russische Freihandelszone anregte. Obwohl er diesen Vorschlag 2010 in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung wiederholte, blieb er bislang in Berlin und Brüssel ohne hörbares Echo.
Dem ehemaligen Siemens-Russlandchef Dietrich Möller nach liegt dies unter anderem an den "Problemen in der Ostukraine und der Krim-Frage", wie er dem russischen Portal SputnikNews sagte. Während es auf der Ebene der Unternehmen und Institutionen durchaus Interesse gebe, blockiere die Politik Fortschritte in diesem Bereich mit Verweis darauf. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte das Anfang 2015 beim Wirtschaftsgipfel im schweizerischen Davos offen eingeräumt (vgl. Freihandel bis Wladiwostok).
Ob sich in dieser Ukrainefrage etwas bewegt, wird sich möglicherweise im April zeigen, wenn das nächste Normandie-Treffen zwischen des Staatschefs Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs stattfindet (vgl. Normandie-Gipfel einigt sich auf Truppenrückzug bis Ende März). Für den Fall, dass dabei nicht das herauskommt, was er sich vorstellt, hat der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj im britischen Guardian am 6. März angekündigt, er werde dann "das Format ändern und eine andere Strategie wählen".