SPD im freien Fall

Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren

Die Nominierung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD im August 2020 sollte die Wende einleiten. Selbstbewusst verkündete der Finanzminister, dass es für die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl im September 2021 nicht nur um ein deutlich besseres Ergebnis gehe als im Jahr 2017 – damals erhielt die Partei mit Martin Schulz an der Spitze nur klägliche 20,5 Prozent – sondern um die Erringung der Kanzlerschaft. Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen und die Sozialdemokraten haben in Umfragen nicht nur nichts hinzugewonnen, sondern sogar noch weiter an Zustimmung verloren.

Würde heute gewählt werden, bekäme die Partei laut aktuellen Umfragen nur noch 15 Prozent der Stimmen.1 Besonders trübe sieht es in Nordrhein-Westfalen aus, dem einstigen Stammland der SPD: "In der neuesten Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks stürzt die SPD auf einen neuen Tiefstand ab und erreicht nur noch 17 Prozent. Das historisch schlechte Landtagswahlergebnis von 2017 (31,2 Prozent) und selbst das katastrophale Kommunalwahlergebnis von Mitte September (24,3 Prozent) wirken mittlerweile wie Traumwerte aus längst vergangenen goldenen Zeiten."2

Permanenter Mitgliederschwund

Auch als Mitgliederpartei befindet sich die SPD im Niedergang. Hierzu wurden kürzlich neue Zahlen bekannt. Danach hat sie "allein in den vergangenen knapp drei Jahren rund 60.000 Mitglieder verloren, 1.800 jeden Monat. Schaut man weiter zurück, ergibt sich ein Mitgliederschwund von mehr als einer halben Million Genossinnen und Genossen seit 1990. Mehr als die Hälfte der einstigen Parteimitglieder sind weg. (…) Zum 31. Dezember des vorigen Jahres hatte die Traditionspartei noch 404.305 Mitglieder."3 Anfang der neunziger Jahre waren es noch gut eine Million.

Die SPD verliert demnach seit Jahrzehnten an Mitgliedern. "Allerdings hat die Partei immer wieder auf der Grundlage einzelner Beitritte einen anderen Eindruck erweckt. So meldete sie nach der Nominierung von Martin Schulz zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Anfang 2017 immer neue Beitrittsrekorde. Später kamen noch Neumitglieder hinzu, die von der NoGroKo-Kampagne der Jusos angeworben wurden, um eine Neuauflage der Koalition mit der Union zu verhindern.

Erst eine Stichtagsregelung des Generalsekretärs Lars Klingbeil stoppte diesen Zustrom. Immerhin: An der Abstimmung durften dann Anfang 2018 genau 463.723 SPD-Mitglieder teilnehmen, rund 30.000 mehr als zwei Jahre zuvor."4

Doch dies war nur ein kurzes Zwischenhoch. Danach ging es umso steiler bergab: "Der SPD-Führung gelang es weder unter Andrea Nahles noch unter Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, diese Entwicklung aufzuhalten. Bis Ende des Jahres 2018 waren 30.000 ausgetreten, im Jahr darauf folgten weitere 22.000. Im ersten Jahr der neuen Parteiführung bleibt, Ein- und Austritte saldiert, ein Minus von 15.000. Keine andere Partei verlor in dieser Zeit mehr Mitglieder als die SPD."5 Und der Rückgang wird weiter anhalten, denn die Partei ist stark überaltert: "56 Prozent der Mitglieder sind älter als 60 Jahre. Es gibt deutlich mehr eingeschriebene Sozialdemokraten, die über 80 Jahre alt sind, als junge Mitglieder unter 30. Auf jedes Mitglied unter 20 kommen vier, die älter als 86 sind. Das Durchschnittsalter liegt bei 60 Jahren."6

Drei vertane Chancen

Nur einen Tag nach dem desaströsen Abschneiden bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 beschloss der SPD-Parteivorstand einstimmig (!), für eine Koalition mit den Unionsparteien nicht mehr zur Verfügung zu stehen. CDU und CSU blieb nichts anderes übrig, als mit Grünen und FDP Gespräche über die Bildung einer Jamaika-Koalition aufzunehmen.

Doch die Verhandlungen scheiterten mit dem Ausstieg der FDP. Nach kurzem Zögern zeigte sich die SPD nun doch wieder bereit, mit den Unionsparteien Gespräche über eine Regierungsbildung aufzunehmen. Am 14. März 2018 war es schließlich soweit: Die erneuerte große Koalition trat ihr Amt an. Die Partei hätte die Chance gehabt, aus ihrer demütigenden Niederlage die Konsequenzen zu ziehen und sich einer erneuten Regierungsbeteiligung zu verweigern. Diese Chance wurde vertan.

Doch der Weg in die erneuerte große Koalition war nicht einfach. Nur mit Mühe konnte sich das Parteiestablishment gegen die Basis durchsetzen, denn die sah zu Recht in der ewigen Koalition mit den Unionsparteien den entscheidenden Grund für den Abstieg der SPD. Vor allem die Jungsozialisten unter ihrem Vorsitzenden Kevin Kühnert rebellierten gegen die Wiederauflage der "GroKo".

Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles im Juni 2019 zeigte sich das alte, noch aus der Zeit von Gerhard Schröder stammende Machtzentrum nicht mehr in der Lage, den Parteivorsitz zu behaupten. Große Teile der Partei rebellierten und verlangten jenen inhaltlichen und politischen Neuanfang, den der Vorstand unmittelbar nach der Wahlniederlage im Herbst 2017 beschlossen hatte. Gefordert wurde ein Mitgliedervotum über den Vorsitz.

Aus diesem Mitgliederentscheid ging im November 2019 das Duo Saskia Esken/ Norbert Walter-Borjans als Sieger hervor. In der Stichwahl entfielen 53,1 Prozent der Stimmen auf die beiden. Das favorisierte Team Klara Geywitz/ Olaf Scholz erhielt hingegen nur 45,3 Prozent. Im ersten Wahlgang hatten Esken und Walter-Borjans noch hinter Geywitz und Scholz gelegen.

Die Niederlage des Bundesfinanzministers und Vizekanzlers Olaf Scholz gegen nahezu unbekannte Politiker war eine große Überraschung. Sie war das Ergebnis des breiten Unmuts in der Mitgliedschaft über eine Parteiführung, die selbst nach demütigsten Niederlagen stur am Bündnis mit den Unionsparteien festhielt.

Die Mitglieder hatten daher weniger für Esken und Walter-Borjans gestimmt als gegen den alten, gescheiterten Kurs des Parteiestablishments. "Sie sind gegen die Fortsetzung der Großen Koalition", hieß es denn auch auf Spiegel-Online am 30. November 2020 über Esken und Walter-Borjans.

Chance auf Neuanfang vertan

Den beiden Gewählten stand der Weg für einen Neubeginn offen. Sie hätten das Votum der Mitglieder nutzen können, um ein Nein zur Fortsetzung der großen Koalition durchzusetzen. Diese Chance haben sie jedoch bereits auf dem Wahlparteitag am 6. Dezember 2019 vertan. In dem dort angenommenen Beschluss "Aufbruch in die neue Zeit" heißt es: "Weder der Verbleib in einer Koalition noch der Austritt sind ein Selbstzweck. (…) Entscheidend ist, dass wir jetzt die uns wichtigen, noch offenen Punkte aus dem Koalitionsvertrag zügig umsetzen und mit CDU und CSU die Weichen für eine gute und gerechte Zukunft unseres Landes und Europas richtig stellen." Damit war klar: Die SPD bleibt bis zur Bundestagswahl im Herbst 2021 in der Regierung (Vgl. Andreas Wehr, Der Gewinner ist der Verlierer).

Wesentlichen Anteil an diesem Beschluss hatte der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert. Dessen Zustimmung war der Preis für seinen Aufstieg zum stellvertretenden Parteivorsitzenden. Hatten die Jungsozialisten noch kurz vor dem Parteitag frohgemut skandiert "Nikolaus ist GroKo aus!", war diese Kampagne plötzlich nur noch Geschichte. Viele, die in die Partei eingetreten waren, um für ein Ende der großen Koalition zu kämpfen, verließen sie wieder. Vertan war damit auch die zweite Chance für den Wiederaufstieg der SPD.

Mit der Nominierung von Scholz zum Kanzlerkandidaten wurde der Verlierer des innerparteilichen Machtkampfes am Ende doch noch Sieger. Und über die Schlappe beim Mitgliedervotum redet heute niemand mehr. Die Nominierung von Scholz hat durchaus ihre Logik, hatten die beiden Parteivorsitzenden doch bereits vor dem Bundesparteig den Anspruch aufgegeben, die SPD inhaltlich wie personell auf ein neues Gleis stellen zu wollen. Und so wird die Partei von ihnen seitdem auch mehr verwaltet als geführt.

Scholz jedenfalls lässt sich durch sie nicht stören. Als Kanzlerkandidat hat er einen bestimmenden Einfluss auf das Wahlprogramm. Das alte, noch aus der Schröder-Zeit stammende Machtzentrum hat sich wieder in Stellung gebracht. Der frühere Bundeskanzler erklärte denn auch: "Die Nominierung von Olaf Scholz ist eine gute Entscheidung zur richtigen Zeit." (Alt-Kanzler Schröder unterstützt Kandidatur von Scholz7). Damit war auch die dritte Chance vertan.

Innerparteilichen Widerstand gegen diese Rückwende gab es kaum. Die Vorsitzende des "Forums Demokratische Linke (DL 21)", Hilde Mattheis, kritisierte nur ganz vorsichtig die Ausrufung von Scholz zum Kanzlerkandidaten: "Und das Vorsitzendenduo? Ohne immer und immer wieder darauf zu verweisen, dass der wiederholte Gang in die große Koalition falsch war, ohne rechthaberisch darauf zu verweisen, dass eine Führungsspitze den Gang aus dieser Koalition nicht in Aussicht stellen darf, um im Nachhinein wortklauberisch diese Aussicht zu relativieren, ist jetzt die Ausrufung eines Vertreters, der die Agendazeit maßgeblich mitgetragen hat, schwer zu vermitteln."8

Doch das von ihre repräsentierte Forum DL 21 ist nur noch ein schwacher Abglanz des einst mächtigen linken Flügels der SPD. Und Hilde Mattheis selbst verfügt über keinen nennenswerten Anhang in der Partei. So trat sie zwar im Mitgliederentscheid zusammen mit dem Gewerkschaftssekretär Dierk Hirschel für den Parteivorsitz an, zog aber ihre Kandidatur aufgrund der Aussichtslosigkeit noch vor dem ersten Wahlgang zurück. Auf dem Bundesparteitag im Dezember 2019 gelang es ihr nicht einmal mehr, eine der 24 Beisitzer im Parteivorstand zu werden. Inzwischen hat Mattheis darauf verzichtet, noch einmal zum Bundestag zu kandidieren.

So gilt für alle, die heute noch in die SPD eintreten, um sie von innen zu reformieren, die Aussage von Dante Alighieri9:

Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.

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