Sachbücher des Monats: Februar 2022

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, RBB Kultur, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.

Jürgen Kocka
Der Kampf um die Moderne
Das lange 19. Jahrhundert

Geprägt von Industrialisierung, Kapitalismus, Nationalismus, Klassenkonflikten und tiefer Ungleichheit der Geschlechter, war es die bürgerlichste Epoche der deutschen Geschichte, deren Grundkonflikte bis heute nachwirken. Große Migrationen wühlten das 19. Jahrhundert ebenso auf wie die entstehende Zivilgesellschaft, die sich Freiheit und Demokratie erhoffte. Aber die 1848er Revolution scheiterte, der Nationalstaat entstand, die Konkurrenz der Mächte spitzte sich zu. Im Ersten Weltkrieg, der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", gingen drei Kaiserreiche und das alte Europa unter. Das 19. Jahrhundert, dessen Glanz und Schatten bis ins 21. Jahrhundert hineinreichen, endete zwar abrupt, sein Bild aber wandelt sich von Grund auf, wie der historische Essay von Jürgen Kocka nachweist.
Verlag Klett-Cotta, 240 Seiten, € 30,00
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Marylène Patou-Mathis
Weibliche Unsichtbarkeit
Wie alles begann.

Über weite Strecken der Geschichte sind Frauen unsichtbar – erst recht in der Ur- und Frühgeschichte. Es sind Männer, die jagten, die Werkzeuge und Waffen erfanden, die Höhlenmalereien hinterließen und als Erfinder zivilisatorischer Errungenschaften gelten. Frauen, so das gängige Bild, hielten sich im Heim auf und damit: im Hintergrund. Marylène Patou-Mathis rückt dieses Bild gerade und zeigt: Es gibt keine Fakten, die diese Annahmen stützen. Neue archäologische Funde haben ergeben, dass prähistorische Frauen mitnichten das unterworfene Geschlecht waren, zu dem männliche Wissenschaftler der Neuzeit sie gemacht haben.
Übersetzt von Stephanie Singh.
Hanser Verlag, 286 Seiten, €2 4,00
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Daniel Schreiber
Allein

Zu keiner Zeit haben so viele Menschen allein gelebt, und nie war elementarer zu spüren, wie brutal das selbstbestimmte Leben in Einsamkeit umschlagen kann. Aber kann man überhaupt glücklich sein allein? Und warum wird in einer Gesellschaft von Individualisten das Alleinleben als schambehaftetes Scheitern wahrgenommen? Daniel Schreiber ergründet das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Rückzug und Freiheit und dem nach Nähe, Liebe und Gemeinschaft. Dabei leuchtet er aus, welche Rolle Freundschaften in diesem Lebensmodell spielen: Können sie eine Antwort auf den Sinnverlust in einer krisenhaften Welt sein?
Verlag Hanser Berlin, 160 Seiten, € 20,00
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Judith N. Shklar
Über Ungerechtigkeit
Erkundungen zu einem moralischen Gefühl

Judith Shklar zeigt, dass die Unterscheidung von Unglück und Ungerechtigkeit wandelbar ist: Was vor hundert Jahren noch ein Unglück war, etwa eine Hungersnot, ist heute eine Ungerechtigkeit, weil es Mittel gibt, sie zu verhindern. Statt ideale Theorien zu konstruieren, fordert Shklar uns auf, auf die Stimmen der Opfer zu hören. In ihnen artikuliert sich ein Sinn für Ungerechtigkeit, der in den positiven Theorien der Gerechtigkeit keine Berücksichtigung findet. Die Philosophie hat viel zu selten über Ungerechtigkeit nachgedacht und sie, wenn überhaupt, nur im Rückspiegel ihrer Gerechtigkeitstheorien betrachtet. Shklars Erkundungen zu einem moralischen Gefühl ändern das und zeigen, wie folgenreich der Sinn für Ungerechtigkeit für die Gestaltung eines liberalen Staats und das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger ist.
Übersetzt von Christiana Goldmann. Herausgegeben von Hannes Bajohr.
Verlag Matthes & Seitz Berlin, 232 Seiten, € 25,00
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Peter Trawny
Krise der Wahrheit

Peter Trawny meint: Nein! Was wir heute erleben, ist nichts anderes als das, was Wahrheit von Anfang an ist: eine Krise. Denn was ist eine Krise? Eine Entscheidung auf Leben oder Tod. Und genau das ist die Wahrheit: eine Macht, die unser Leben in vielen Bereichen bestimmt. Folglich durchdenkt Trawny die Rolle der Wahrheit auf den Feldern Medien, Politik, Öffentlichkeit, Kunst, Geschlecht. Denn es geht nicht ohne Wahrheit: Wir sind Wahrheitswesen durch und durch, unser Leben steht und fällt im Licht und im Schatten der Wahrheit. Mit ihr entscheidet sich, was ich denke und wer ich bin.
S. Fischer Verlag, 255 Seiten, € 23,00
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David Graeber/David Wendrow
Anfänge
Eine neue Geschichte der Menschheit

David Graebe und David Wengrow entfalten in ihrer großen Menschheitsgeschichte, wie sich die Anfänge unserer Zivilisation mit der Zukunft der Menschheit neu denken und verbinden lässt. Sie revidieren unser bisheriges Menschenbild und erzählen Menschheitsgeschichte, wie sie noch nie erzählt wurde. Über Jahrtausende hinweg, lange vor der Aufklärung, wurde schon jede erdenkliche Form sozialer Organisation erfunden und nach Freiheit, Wissen und Glück gestrebt. Graeber und Wengrow zeigen, wie stark die indigene Perspektive das westliche Denken beeinflusst hat und wie wichtig ihre Rückgewinnung ist. Sie ermuntern uns, mutiger und entschiedener für eine andere Zukunft der Menschheit einzutreten und sie durch unser Handeln zu verändern.
Übersetzt von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Andreas Thomsen.
Verlag Klett-Cotta, 667 Seiten, € 28,00
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Klaus von Dohnanyi
Nationale Interessen
Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche

Im Wettkampf zwischen den USA und China gerät Europa bereits zwischen die Fronten. Und dies wird auch unser Verhältnis zu Russland verändern müssen. Jetzt ist ein nüchterner, illusionsloser Blick auf die neuen Realitäten notwendig, wie Klaus von Dohnanyi zeigt: Auf "Wertegemeinschaften" oder "Freundschaften" können wir nicht vertrauen, Deutschland und Europa müssen vielmehr offen ihre eigenen, wohl verstandenen Interessen formulieren und mit Realismus verfolgen. So fordert von Dohnanyi grundsätzliche Kurskorrekturen – im Bereich der äußeren Sicherheit ebenso wie in der Industriepolitik, weg von einseitigen Abhängigkeiten, hin zu einer Politik der Eigenverantwortung.
Siedler Verlag, 238 Seiten, € 22,00
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David Edmonds
Die Ermordung des Professor Schlick
Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie

Am 22. Juni 1936 wurde Moritz Schlick auf dem Weg zu seiner Vorlesung an der Universität Wien erschossen. Der Attentäter war ein geistig verwirrter Student, der den Philosophen bezichtigte, jüdische Theorien zu verbreiten. David Edmonds schildert die Geschichte des Wiener Kreises, dessen Oberhaupt Schlick gewesen war, und stellt sie in den Kontext seiner Zeit. Eine Gruppe brillanter und exzentrischer Denker, die die Metaphysik und alle Pseudowissenschaften mit streng logischen Argumenten aus der Welt schaffen will, lebt in einer Stadt, deren pulsierendes kulturelles Leben immer stärker verdunkelt wird von Faschismus, Antisemitismus und blindem Hass.
Übersetzt von Annabel Zettel.
C. H. Beck Verlag, € 26,00
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Asiem El Difraoui
Die Hydra des Dschihadismus
Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr

Asiem El Difraoui traf Dutzende von Dschihadisten. Führte Interviews in Afghanistan, Pakistan, Syrien, Saudi-Arabien, Ägypten, dem Libanon und dem Irak. Ebenso in den Vororten von Paris, London, Bonn oder Frankfurt. Mal reiste er dem Terror hinterher. Mal kam der Terror zu ihm, wie in Gestalt der Anschläge 2015 in Paris, die sich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft ereigneten. Seine Erkenntnis: IS, Al-Qaida, oder Boko Haram werden in unseren Medien gerne als Ansammlung Verblendeter dargestellt. Und mit dieser Haltung werden entscheidende Tatsachen beiseite gewischt. Es sind auch unsere Kinder, die in den Dschihad ziehen. Und unter den Opfern dieser Entwicklung sind wiederum Kinder, die traumatisiert in Flüchtlingstrecks bei uns landen.
Suhrkamp Verlag,367 Seiten
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Johann Georg Hamann
Sokratische Denkwürdigkeiten
Wolken

Der Text positioniert sich subtil kritisch auch gegen die philosophische Ambition des Königsberger Freundes Immanuel Kant. Der zweite, hier erstmalig kommentierte Text, die "Wolken", reagiert auf die Hamann von zeitgenössischen Rezensenten zum Vorwurf gemachte "Dunkelheit" seiner Texte. Hamann druckt zunächst einen Verriss der "Denkwürdigkeiten" vollständig ab, um ihn sodann mit kritischen Anmerkungen zu versehen.
Herausgegeben von Leonard Keidel und Janina Reibold.
Felix Meiner Verlag, 445 Seiten, € 48,00
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Besondere Empfehlung des Monats Februar von Ursula Münch:

Jonas Pfister
Kritisches Denken

Kritisches Denken bildet einen zentralen Aspekt einer selbständigen und selbstbestimmten Persönlichkeit, die weder blind dem folgt, was andere sagen, noch allein dem, was dem eigenen Gefühl nach richtig zu sein scheint. Somit ist kritisches Denken eine wesentliche Grundlage dafür, dass wir unsere bürgerlichen Rechte wahrnehmen und unsere Pflichten in einer Demokratie erfüllen können – und ist deshalb auch und besonders für die Schule interessant. Jonas Pfister liefert mit diesem Band alle wichtigen Werkzeuge zum kritischen Nachdenken über Gründe und Argumente, Wissenschaftlichkeit, Aberglaube, Fake News, Verschwörungstheorien, Intuitionen und plausible Ableitungen.

Debatten, was wahr und was falsch ist, werden inzwischen über beinahe alles geführt: besonders erbittert über die Pandemie und den Klimawandel. Das gegenseitige Unverständnis ist groß und zwar sowohl wegen des jeweiligen Gegenstands der Auseinandersetzung als auch aufgrund des Umstands, dass zu wenig rational argumentiert wird. Der Philosoph und Didaktiker der Philosophie, Jonas Pfister von der Universität Innsbruck, hält sich nicht mit einer Bestandsaufnahme oder einem Lamento auf, sondern leistet einen konkreten und nachvollziehbaren Beitrag zur Abhilfe: Der Band analysiert, wodurch sich kritisches Denken auszeichnet, klärt (sprach-)philosophische Konzepte anschaulich und baut die didaktischen Mittel so geschickt ein, dass das Buch nicht als Lehrbuch, sondern als Begleiter daherkommt. Fehlschlüsse von Schwurblerinnen und Schwurblern werden dadurch zwar nicht weniger, aber an der eigenen gedanklichen Klarheit zu arbeiten, kann nicht schaden.

Ursula Münch

Reclam Verlag, 244 Seiten, € 7,80
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Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Natascha Freundel, RBB-Kultur; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Prof. Dr. Wolfgang Hagen, Leuphana Universität Lüneburg; Knud von Harbou, Feldafing; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, Feuilleton Frankfurt; Jörg-Dieter Kogel, Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, Die Welt; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF, Wien; Florian Rötzer, München; Norbert Seitz, Berlin; Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Zürich.

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