Sachbücher des Monats: Juli 2012

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

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Jeden Monat neu präsentiert von der Süddeutschen Zeitung, dem Norddeutschen Rundfunk, Buchjournal, Börsenblatt und Telepolis. (Die Jury )

Hans Blumenberg

Quellen, Ströme, Eisberge

Um der übermächtigen Wirklichkeit zu entkommen, erfinden Menschen Bilder und Mythen, metaphysische und kulturelle Systeme, denn sie bieten Orientierung, auch wenn sich ihre "Wahrheit" kaum beweisen läßt. Von dieser Überlegung geleitet, interessierte sich der Philosoph Hans Blumenberg lebenslang für bestimmte Metaphern, die als "regulative Ideen" dem Denken einen Rahmen geben, ohne es ganz festzulegen. Metaphern, so war seine Überzeugung, bilden den Untergrund der Ideengeschichte. Seit 1978 schwebte ihm ein eigenes Buch zu den drei "Wassermetaphern": Quellen, Ströme und Eisberge vor, denen er zentrale Bedeutung zumaß. Er sammelte umfangreiche Materialien und Belege in seinen Zettelkästen, und in seinem Nachlass fand sich ein nahezu druckfertig ausgearbeiteter Text, der hier zum ersten Mal veröffentlicht wird. Anhand zahlreicher Beispiele - von den Vorsokratikern bis hin zu Werbetexten der Gegenwart - zeigt er anschaulich: Wasser ist, auch als Metapher, buchstäblich lebensnotwendig.

Suhrkamp Verlag, 303 Seiten, 21,95 €

Christina von Braun

Der Preis des Geldes

Eine Kulturgeschichte

Das unverzichtbare Grundlagenwerk: In ihrer brillanten Analyse der Geschichte des Geldes stellt Christina von Braun die Frage in den Mittelpunkt, warum wir an die Macht eines Systems glauben, das kaum jemand mehr versteht. Seit seiner Entstehung hat das Geld einen immer höheren Abstraktionsgrad erreicht: von der Münze über Schuldverschreibungen, Papiergeld bis zum elektronischen Geld. Inzwischen ist der größte Teil des Geldes Kreditgeld, basierend auf Hoffnung, Glauben, Versprechen. In der Ökonomie gibt es einen breiten Konsens darüber, dass das Geld keiner Deckung bedarf. Christina von Braun vertritt die Gegenthese: Das moderne Geld, das keinen materiellen Gegenwert hat, wird durch den menschlichen Körper ‚gedeckt’. Das erklärt nicht nur die extrem unterschiedlichen Einkommensverhältnisse im Finanzkapitalismus, sondern auch die Monetarisierung des menschlichen Körpers, etwa im Söldnerwesen, in der Prostitution, dem Organhandel oder der Reproduktionsmedizin. Die moderne Beglaubigung des Geldes ist schon in seinem Ursprung angelegt und fand in der christlichen Religion den idealen kulturellen Nährboden.

Aufbau Verlag, 510 Seiten, 34,00 €

Gilbert Achcar

Die Araber und der Holocaust

Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen

Es gibt kaum ein explosiveres Thema als "Die Araber und der Holocaust" das Terrain ist vermint, voller Vorwürfe und Gegenvorwürfe: Die einen werden beschuldigt, den Holocaust zu verleugnen; den anderen wird vorgeworfen, die eigene Tragödie auszubeuten und die der Gegenseite zu ignorieren. In seiner wegweisenden Untersuchung hat der Politikwissenschaftler Gilbert Achcar das Geflecht der unvereinbar scheinenden Narrative und ihre Rolle im Nahost-Konflikt untersucht. Er analysiert die verschiedenen arabischen Reaktionen auf den Nationalsozialismus, von den ersten drohenden Vorzeichen des Völkermords an den Juden über die Gründung Israels und die von Massenvertreibungen begleitete Zerstörung des historischen Palästina bis zur Gegenwart, und stellt sie in ihren jeweiligen historischen und politischen Kontext. Er kritisiert jede Geschichtsschreibung und politische Propaganda, die durch Antisemitismus und Holocaust-Leugnung motiviert sind. Berechtigte Kritik, darauf besteht Achcar, muss einhergehen mit ehrlicher Selbstkritik. Achcars Buch wirkt befreiend, weil es Möglichkeiten der Verständigung eröffnet, die seit Jahren durch einen erbitterten internationalen Propagandakrieg verschüttet werden.

Edition Nautilus, 368 Seiten, 29,90 €

Jan Caeyers

Beethoven

Der einsame Revolutionär

Die Kompositionen Ludwig van Beethovens gehören zum unvergänglichen Erbe der Musikgeschichte. Doch wer war der Schöpfer dieser Musik, der uns mit unsterblichen Werken wie dem Fidelio, der Missa solemnis, seinen Klaviersonaten, seinen Streichquartetten und der Neunten Sinfonie beschenkt hat? Jan Caeyers entwirft in dieser großen Biographie ein faszinierend lebendiges Portrait des Künstlers. Der Autor stellt uns Beethoven als eine Ausnahmeerscheinung der Musikwelt vor, ohne musikhistorisches oder gar musiktechnisches Wissen vorauszusetzen. Er erhellt in dieser meisterhaft erzählten Biographie den menschlichen wie den künstlerischen Werdegang seines Protagonisten, indem er die Entstehungsgeschichte seiner Werke mit Beethovens persönlicher Entwicklung - die zwischen Generosität und Kleinlichkeit, zwischen Enthusiasmus und Verzweiflung oszilliert - verwebt. Dabei erschließen sich zugleich die Arbeitsbedingungen, die wirtschaftlichen Nöte sowie das musikalische und gesellschaftliche Leben in der Provinz und in der Metropole Wien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Auch beschreibt Caeyers die Zwänge dieser Epoche, denen sich selbst ein Genie wie Beethoven nicht entziehen konnte und die es verhindert haben, dass er die einzige große Liebe seines Lebens zu der "unsterblichen Geliebten" hat leben können.

C.H. Beck Verlag, 832 Seiten, 29,95 €

Amnesty International

Amnesty International Report 2012

Zur Weltweiten Lage der Menschenrechte

Der Amnesty International Report 2012 dokumentiert die Menschenrechtssituation in über 150 Staaten. Immer mehr Menschen nutzen weltweit die neuen Kommunikationstechnologien in vielfältiger und innovativer Weise, um ihrer Forderung nach einem Leben in Würde Nachdruck zu verleihen. Der aktuelle Report zeigt, dass die am schwersten von Menschenrechtsverletzungen Betroffenen die treibende Kraft im Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte sind. Ihre Entschlossenheit und Beharrlichkeit macht es den Machthabenden zunehmend schwerer, den Ruf nach grundlegenden und unumkehrbaren Reformen zu ignorieren.

S. Fischer Verlag, 573 Seiten, 14,99 €

Daniel Kahnemann

Schnelles Denken, langsames Denken

Wie wir Entscheidungen treffen und was das mit Wirtschaft zu tun hat

Wie treffen wir unsere Entscheidungen? Warum ist Zögern ein überlebensnotwendiger Reflex, und was passiert in unserem Gehirn, wenn wir andere Menschen oder Dinge beurteilen? Daniel Kahneman, Nobelpreisträger und einer der einflussreichsten Wissenschaftler unserer Zeit, zeigt anhand ebenso nachvollziehbarer Beispiele, welchen mentalen Mustern wir folgen und wie wir uns gegen verhängnisvolle Fehlentscheidungen wappnen können. Geldhändler, die ganze Bankenimperien ruinieren; Finanzmärkte, die außer Rand und Band sind; Kleinanleger, die ihr Erspartes in Aktien anlegen, ohne je den Wirtschaftsteil einer Zeitung gelesen zu haben: Wer in diesen Zeiten noch an den Homo oeconomicus als rational agierendes Wesen glaubt, dem ist nicht zu helfen. Kahneman liefert eine völlig andere Sichtweise, die nah am wirklichen menschlichen Verhalten orientiert ist und die Wirtschaftsakteure nicht als berechenbare Roboter betrachtet. Sein Fazit: Wir werden niemals immer und überall optimal handeln, wichtige Entscheidungen bleiben unsicher und fehleranfällig. Doch gibt es viele alltägliche Situationen, in denen wir die Qualität und die Folgen unseres Urteils entscheidend verbessern können.

Siedler Verlag, 624 Seiten, 26,99 €

Bernhard Pörksen/Hanne Detel

Der entfesselte Skandal

Das Ende der Kontrolle im Digitalen Zeitalter,

WikiLeaks blamiert zuerst eine Weltmacht und dann sich selbst. Blogger prangern einige wenige, bis dahin unbeachtet gebliebene Sätze des Bundespräsidenten an und forcieren im Verbund mit klassischen Massenmedien seinen Rücktritt. Politiker stürzen über Plagiate, die sich im Netz detailgenau dokumentieren lassen. In die falschen Kanäle gelangte Fotos und Handyvideos, SMS-Botschaften und Twitter-Meldungen beenden Karrieren und werden zu global zirkulierenden Beweisen eines Vergehens, die sich nicht mehr aus der Welt schaffen lassen. Immer mehr Daten lassen sich immer leichter verknüpfen, rekonstruieren, dauerhaft speichern und eines Tages in öffentliche Dokumente der Diskreditierung verwandeln, die sich nicht mehr nur gegen Mächtige und Prominente, sondern auch gegen Ohnmächtige und gänzlich Unbekannte richten. Blitzschnell sind im digitalen Zeitalter Transparenz und Aufklärung möglich und in rasender Geschwindigkeit verbreiten sich Falschmeldungen, bilden sich Wut- und Empörungsgemeinschaften, die mit Schicksalen auf einer weltweit sichtbaren Bühne spielen. Dieser materialreiche Essay ist eine Provokation. Zur Debatte steht die Diagnose der Autoren: Der Skandal ist kein Distanzereignis mehr, sondern hat unser aller Leben erreicht.

Herbert von Halem Verlag, 248 Seiten, 19,80 €

John R. Searle

Wie wir die soziale Welt machen

Die Struktur der menschlichen Zivilisation

"Angela Merkel ist die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland", "Das Stück Papier in der Hand des Kassierers ist ein Fünfzig-Euro-Schein", "John Searle ist verheiratet" - mit Sätzen wie diesen sagen wir etwas über die Welt: dass es in ihr Dinge wie Bundeskanzler, Geld und Ehen tatsächlich gibt. Jedoch existieren diese sozialen Tatsachen nur, weil wir glauben, dass sie existieren. Das gilt für natürliche Tatsachen, die Schwerkraft etwa, nicht. Zerfällt die Welt somit in unterschiedliche Sphären des Seins? Gibt es womöglich zwei oder gar drei Wirklichkeiten? Nein, sagt John Searle, es gibt schlicht nur eine einzige Realität, deren Grundlage die Welt der Natur ist, wie sie Physik, Biologie und Chemie beschreiben. Wie sich die Bestandteile der sozialen Welt dennoch nahtlos in diese Realität einfügen lassen, warum sie ebenso wirklich und objektiv sind wie die Dinge, die unabhängig von menschlichem Zutun existieren, zeigt er in seinem neuen Buch und schlägt dabei einen großen argumentativen Bogen. Sprache und Denken, Geist und Natur, Freiheit und Determinismus werden ebenso behandelt wie das Wesen von Institutionen, das Phänomen der Macht oder der Status der Menschenrechte.

Suhrkamp Verlag, 351 Seiten, 28,95 €

Tristram Hunt

Friedrich Engels

Der Mann, der den Marxismus erfand

Wer Marx sagt, muss auch Engels sagen. Der Marxismus ist ohne Engels nicht zu denken. Dennoch stand er meist im Schatten des Freundes. In seiner großen Biographie gelingt es Tristram Hunt, Friedrich Engels als eigenständigen Denker zu zeigen, dessen Werk demjenigen von Marx nicht nachstand, dessen Leben aber weitaus aufregender verlief. Von den beiden Autoren des "Kommunistischen Manifestes" und Begründern jener Ideologie, die die Welt mehr verändert hat als jede andere,war Engels zweifellos der Schillerndere, biographisch Interessantere: einerseits Bonvivant, Frauenheld, passionierter Fuchsjäger und erfolgreicher Unternehmer, andererseits Moralist, Vordenker des Kommunismus, scharfer Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise und Verräter seiner Klasse. Engels war geradezu die Verkörperung der dialektischen Denkweise, die den Marxismus konstituierte. Hunt präsentiert uns den großen Sozialisten in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Zugleich zeichnet er ein Bild der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, ohne die Leben und Werk von Engels wie Marx nicht zu verstehen sind.

Propyläen Verlag, 576 Seiten, 24,99 €

Besondere Empfehlung des Monats Juli von Petra Kammann:

Antje Böhme

Träumen Sie schön

Ästhetischer Schein und gesellschaftliches Sein am Beispiel des Shoppingcenters

Marketingexperten, Medienmacher, Architekten und Designer prägen durch die Kreation von Produkten und Oberflächen mehr als je zuvor unsere Lebenswirklichkeit. Ausgehend von der Beobachtung, dass die künstlichen Medien- und Erlebniswelten zu einer realen Grundlage der alltäglichen Erfahrung geworden sind, analysiert und problematisiert die Autorin die Totalität einer inszenierten Welt, für deren konsumorientierte Zeichen- und Bedeutungsgefüge sie am Beispiel des Shoppingcenters sensibilisieren möchte. Die vorliegende Studie stellt das bisher meist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive betrachtete Shoppingcenter in einen philosophisch-ästhetischen Kontext, um ein Bewusstsein über die undurchschaute Wirksamkeit ästhetischer Qualitäten im Dienste ökonomischer und politischer Interessen herzustellen.

Aisthesis Verlag, 141 Seiten, 17,80 €

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