Sachbücher des Monats: September 2021
Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung
Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, RBB Kultur, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.
Wolfgang Streeck
Zwischen Globalismus und Demokratie
Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus
In der Hochphase des Neoliberalismus galt die Globalisierung als unvermeidlich und die umverteilende Demokratie als überholt. Wachsender Wohlstand für alle war das Versprechen, wachsende Unfähigkeit, die kapitalistische Ungleichheitsmaschine zu bändigen, ist das Ergebnis. Taumelnde Volksparteien, schrumpfende Gewerkschaften sowie grassierende Zweifel an der Leistungsfähigkeit demokratischer Institutionen sind die eine Folge dieser Entwicklung. Die andere sind Bewegungen wie die "Gelbwesten" sowie neue Parteien an den Rändern des politischen Spektrums. Längst hat in vielen Ländern ein Tauziehen um die politische Ordnung begonnen, das die Gesellschaften zu zerreißen droht. Angesichts dieser Situation ist die Zeit reif für eine grundlegende Entscheidung, sagt Wolfgang Streeck. Soll es mit dem Umbau des Staatensystems weitergehen wie gehabt, das heißt in Richtung einer noch stärkeren überstaatlichen Zentralisierung? Oder wäre der Weg in eine moderne, auf friedliche Kooperation ausgerichtete "Kleinstaaterei" die bessere Lösung? Mit dem Ziel einer Neubegründung demokratischer Politik vor Augen fällt sein Votum eindeutig aus: für den zweiten Weg, auch und gerade in Europa. Denn schon die EU, wie wir sie kennen, ist Streeck zufolge nicht demokratisierbar.
Suhrkamp Verlag, 538 Seiten, € 28,00
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Ralph Bollmann
Angela Merkel
Die Kanzlerin und ihre Zeit
Ralph Bollmann zeichnet in seiner Biografie den Lebensweg Merkels nach und erzählt die Geschichte ihrer Kanzlerschaft, die von der Finanzkrise über die Flüchtlingskrise bis zur Covid 19-Pandemie enorme Anforderungen an sie stellen sollte. In der Regierungszeit von Angela Merkel begannen sich Gewissheiten aufzulösen. Die vertraute Weltordnung der Nachkriegszeit verschwand, eine neue Unsicherheit trat an ihre Stelle, zuletzt in der Corona-Krise sogar bis in den Alltag der Menschen hinein. Durch die Erfahrung des Systembruchs von 1989/90 war die ostdeutsche Politikerin darauf besser vorbereitet als viele ihrer Kolleginnen und Kollegen. Sie wurde nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil sie von den veränderungsunlustigen Deutschen alle Zumutungen konsequent fernhielt. Doch mit der Flüchtlingsdebatte endete diese Harmonie. Merkel konnte und wollte Deutschland nicht länger von den Weltläufen abschirmen und polarisierte selbst im Konflikt zwischen nationaler Abwehr und Weltoffenheit.
C.H. Beck Verlag, 800 Seiten, € 29,95
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Richard Saage
Otto Bauer
Ein Grenzgänger zwischen Reform und Revolution
Otto Bauer war als führender Theoretiker und Spitzenpolitiker der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in der Ersten österreichischen Republik für die einen eine moralische und intellektuelle Lichtgestalt und für die anderen ein verkappter Bolschewist. Demgegenüber fragt die vorliegende Edition, ob es Möglichkeiten gibt, das Bild Bauers jenseits dieser Polarisierung zu verorten. Dieser Versuch legt eine doppelte Interpretationsperspektive nahe. Die in diesem Band versammelten vierzehn Aufsätze deuten einerseits das Lebenswerk Bauers soweit wie möglich im Kontext seiner Zeit. Andererseits heben sie aber auch die Einsichten Bauers hervor, die uns heute noch unmittelbar ansprechen.
LIT Verlag, 256 Seiten, € 29,90
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Fabian Bernhardt
Rache
Über einen blinden Fleck der Moderne
Die Moderne nimmt für sich in Anspruch, die Rache glücklich überwunden und durch die Herrschaft des Rechts ersetzt zu haben. Seit der Aufklärung gilt die Rache nicht nur als Gegenspielerin des Rechts, sondern als das dunkle Andere der Moderne überhaupt. Fabian Bernhardt liest diese bislang kaum hinterfragte Fortschrittserzählung gegen den Strich. Batman tritt neben Achilles, Marcel Mauss trifft auf Immanuel Kant. Er zeigt, dass mit der Delegitimierung der Rache zugleich eine theoretische Verdunkelung einherging. Regelmäßig verkannt wird nicht nur die ordnende Bedeutung, die der Rache in sogenannten primitiven Gesellschaften zukommt, sondern auch die Rolle, die der Wunsch nach Vergeltung in den modernen Gesellschaften uneingestanden nach wie vor spielt. In der Rache scheint nicht nur die dunkle Seite der Gerechtigkeit auf, in ihr melden sich auch diejenigen verdrängten Energien und Affekte zurück, für die es in der modernen Gegenwart keinen legitimen Platz mehr zu geben scheint.
Verlag Matthes & Seitz Berlin, 416 Seiten, € 28,00
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Markus Krajewski, Antonia von Schöning, Mario Wimmer (Hg.)
Enzyklopädie der Genauigkeit
Welche Rolle spielt Genauigkeit in der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung? Was steht mit der Wahrnehmungsschärfe für eine Ästhetik des Schreckens auf dem Spiel? Oder mit der Passgenauigkeit für die Kunst und Philosophie des 20. Jahrhunderts? Und wie hat das Prinzip des Just-in-Time-Managements vom Einkaufskorb eines US-amerikanischen Supermarkts über die Produktionshallen von Toyota ins alltäglich gewordene Medienformat der Post-Its gefunden? Ausgehend von anschaulichen Beispielen analysieren die Beiträge zur Enzyklopädie der Genauigkeit Herkunft, Kontexte und Konjunkturen jener Begriffe, die Praktiken, Vorstellungen und Ideale von Genauigkeit in Kunst, Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften verkörpern.
Verlag Konstanz University Press, 553 Seiten, € 49,00
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Rudolf Probst, Ulrich Weber (Hg.)
Friedrich Dürrenmatt
Das Stoffe-Projekt
Kurz nach seinen größten Triumphen auf der Bühne erlebte Dürrenmatt seine tiefste private wie künstlerische Krise. Er fühlte sich von seinem Publikum, das ihn bisher auf Händen getragen hatte, nicht mehr verstanden und versuchte, sich zumindest selbst zu verstehen. Daraus entstand das "Stoffe-Projekt" - sein großes Spätwerk. Darin verwebt er autobiographische mit philosophischen und fiktionalen Texten und Textfragmenten zu einer ganz eigenen Prosaform.
Textgenetische Edition in fünf Bänden.
Diogenes Verlag, zus. 2208 Seiten, € 400,00
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Byun-Chul Han
Infokratie
Digitalisierung und die Krise der Demokratie
Die Digitalisierung erfasst inzwischen auch den Bereich des Politischen und führt zu massiven Verwerfungen im demokratischen Prozess. Wahlkämpfe als Informationskriege werden mit allen erdenklichen technischen und psychologischen Mitteln geführt. Social Bots, die automatisierten Fake-Accounts in den sozialen Medien, verbreiten Fake News, Hetze und Hass und beeinflussen die politische Meinungsbildung. Troll-Armeen greifen in die Wahlkämpfe ein, indem sie gezielt Desinformation betreiben. Verschwörungstheorien und Propaganda beherrschen die politische Debatte. Mittels digitaler Psychometrie und Psychopolitik wird versucht, das Wahlverhalten unter Umgehung bewusster Entscheidung zu beeinflussen. Byung-Chul Han gibt der Krise einen Namen: Infokratie und verortet sie im Informationsregime als neue Herrschaftsform.
Verlag Matthes & Seitz Berlin, 91 Seiten, € 10,00
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Lucy Pollock
Das Buch über das Älterwerden
(für Leute, die nicht darüber sprechen wollen)
Wir werden immer älter. Doch wie können wir unsere gewonnene Lebenszeit oder die unserer Angehörigen so glücklich und gut wie möglich gestalten? Lucy Pollock teilt in diesem Buch ihre medizinischen wie menschlichen Erfahrungen. Zudem hat sie eine Hoffnung machende Botschaft, denn sie sagt: Es gibt für alles eine Lösung, man muss nur darüber reden. Die Bedeutung des offenen Gesprächs untermauert sie mit Fallbeispielen und macht so den Lesern Mut, auch heikle Themen anzusprechen.
Übersetzt von Ulrike Becker.
Dumont Verlag, 340 Seiten, € 22,00
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Joseph H. Reichholf
Regenwälder
Ihre bedrohte Schönheit und wie wir sie noch retten können
Warum schwinden die tropischen Regenwälder weiter, obwohl schon so lange klar ist, welch bedeutende Rolle sie global für Klima und Artenvielfalt haben? Josef H. Reichholf liefert Antworten. Es lädt dazu ein, den grünen Tropengürtel des blauen Planeten neu zu entdecken - bevor seine Pracht und Vielfalt für immer verloren gehen. Auf den Schautafeln Johann Brandstetters kommt uns eine untergehende Welt ergreifend nah. Wir verstehen, warum die Tropen eine so besondere Natur mit winzigen Kolibris und prachtvollen Orchideen hervorbringen konnten, aber auch, wie der Westen den Regenwald zerstört - und wie diese Vernichtung noch gestoppt werden kann.
Mit Illustrationen von Johann Brandstetter.
Aufbau Verlag, 270 Seiten, € 32,00
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Tim Weiner
Macht und Wahn
Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945
In "Macht und Wahn" beleuchtet Tim Weiner die bilaterale Beziehung zwischen den Großmächten Russland und USA. Gespickt mit Insiderberichten zeichnet Weiner die Wurzeln dieses inzwischen über 75 Jahre andauernden Kampfes nach, den Amerika und Russland von 1945 bis 2020 mit Spionage, Diplomatie, Sabotage und Desinformation miteinander ausfechten. Weiner führt hinter verschlossene Türen und lässt die Protagonisten - Präsidenten, Politiker, Hintermänner - beider Seiten des Ost-West-Konflikts zu Wort kommen. Er beleuchtet die Machenschaften des KGB und der CIA und ihre Folgen für die Zeitgeschichte.
Übersetzt von Christa Prummer-Lehmair.
S. Fischer Verlag, 352 Seiten, € 26,00
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Besondere Empfehlung des Monats September von Helwig Schmidt-Glintzer:
Sören Urbansky
An den Ufern des Amur
Die vergessene Welt zwischen China und Russland
Am Amur stoßen auf einer Länge von zweitausend Kilometern China und Russland aufeinander. Sören Urbansky ist vom Baikalsee bis zum Japanischen Meer durch die abgelegene Grenzregion gereist. In seiner Reportage vom "Schwarzen Drachen", wie die Chinesen den riesigen Grenzfluss zu Russland nennen, erzählt er mit von den großen tektonischen Verschiebungen der beiden Imperien.Wo der Norden Chinas sibirisch wird und der Südosten Russlands zunehmend chinesisch, stehen die beiden autoritären Imperien Rücken an Rücken zueinander. Bis zum Zweiten Weltkrieg rangen hier die Sowjetunion und Japan um die Vorherrschaft. Auf der Suche nach Spuren der Geschichte ist Sören Urbansky auf eine erstaunliche chinesisch-russische Gegenwart gestoßen. Er berichtet von prosperierenden chinesischen Metropolen auf der einen Seite und erstarrten russischen Orten auf der anderen Seite des Flusses - vor wenigen Jahrzehnten war das Gefälle noch umgekehrt. Er besucht Städte wie Harbin im Nordosten Chinas, einst "Moskau des Ostens", und Wladiwostok, das erträumte russische San Francisco, und ist zu Gast bei einfachen Menschen, die fließend Chinesisch und Russisch sprechen und ihre Soljanka mit Stäbchen schlürfen.
"An den Ufern des Amur" beschäftigt sich mit einem Zwischenraum an Chinas Nordostgrenze, mit der "vergessenen Welt zwischen China und Russland". Es handelt sich um jenen Grenzraum nördlich der Großen Mauer zwischen dem Baikalsee im Westen und Wladiwostok im Osten, dem Tor Russlands ins Japanische Meer, wo sich Chinesen und Russen mischen oder auch gegeneinander abgrenzen. Ein Sachbuch, wie man es selten findet und dessen Aktualität der Autor am Schluss nur andeutet, wenn er davon spricht, dass "eine Integration der Region Nordostasien in weiter Ferne" liege, auch da es keinen Friedensvertrag zwischen Russland und Japan gibt. Viele der Menschen aber, denen er begegnete, fühlten sich als "Europäer mitten in Asien" und betrachteten den Begriff "Ferner Osten" als "eine Art Orientalisierung", und er sagt von ihnen, was übrigens für die Menschen in ganz China gilt: "Die Menschen an beiden Ufern des Amur und darüber hinaus, sie haben sich ihre Nachbarn nicht ausgesucht.
Helwig Schmidt-Glintzer
C.H.Beck Verlag, 375 Seiten, € 26,00
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Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Natascha Freundel, RBB-Kultur; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Prof. Dr. Wolfgang Hagen, Leuphana Universität Lüneburg; Knud von Harbou, Publizist und Autor, Feldafing; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel, Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Zürich.
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